Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
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Befreit vom Militär

von Manuel Beyer / März 2014

- das Markusevangelium mit heutigen Augen lesen: Ein Familienvater irrt in einem nordafghanischen Dorf über die Gräberfelder. Seit Wochen schon hören sie ihn schreien und klagen. Ein us-amerikanisches Kampfflugzeug hat seine Frau und die Kinder beim Brenn-holzsammeln erschossen, berichten Friedensaktivisten aus den USA. Seitdem ist der Vater nicht mehr zu beruhigen. Immer wieder verletzt er sich schwer mit den Felssteinen der Gräber. Können wir die Trauer und den Zorn dieses Familienvaters nachempfinden? Wenigstens ansatzweise? In einem Land, das sich seit 2001 unter der „Friedens-Besatzung“ der USA und ihrer verbündeten Truppen befindet.

Letzen Sommer war ich mit meiner Frau in den USA. Dort fragen die Christ_innen gerne: „What would Jesus do? Was würde Jesus tun?“ Und vor kurzem fiel es mir persönlich wie Schuppen von den Augen: Es gibt nicht nur den ganz allgemein gewaltfreien und sozialkritischen Jesus. Nein, Jesus selbst ist in genau so eine Militär-Besatzung hineingeboren worden, darin aufgewachsen und hat darin gehandelt!

Doch der Reihe nach…
Es geht mir um Jesu Tun im Markusevangelium (Kapitel 5, Verse 1-20): Jesus befreit einen Mann vom Dämon Legion, indem er diesen Legion in eine Schweineherde schickt, die dann in einen See stürmt und ertrinkt. Das entscheidende Schlüsselwort ist dabei „Legion“. Für damalige Ohren völlig eindeutig, wurde mir erst durch intensives Lesen klar: „Legion“ war eine römische Militäreinheit mit 2000 Soldaten.

Und von da aus entschlüsselt sich die Erzählung von selbst. Uns sind heute die Signalworte „11. September“, „Guantanamo“, „Drohnen“ u.ä. vertraut. Auch die Signalworte des Markusevangeliums können wir verstehen: Der Autor verwendet ein bestimmtes griechisches Wort für „(Schweine-) Herde“, es bezeichnet eine Gruppe römischer Soldaten. Auch andere griechische Worte im Markustext, wie „erlauben“ (Jesus „erlaubt“ den „Dämonen“ in den Schweine zu fahren) und „stürmen“ werden in der Militärsprache gebraucht. Die Anspielung auf ertrinkende „Schweine“ erinnert die Landsleute Jesu außerdem an den „Eber“, der das Wappentier der römischen Armee im Land war. Der Dämon Legion steht also für das römische Militär in Israel zur Zeit Jesu.

Die Erzählung hat ihren Ort um die Stadt Gerasa herum. Sie ist Teil des Zehnstädteverbunds an der Ostgrenze des römischen Imperiums. Dort finden regelmäßig römische Militäraktionen statt und zahlreiche Veteranen wurden angesiedelt. Gerasa erinnert die Zeitgenossen des Markusevangeliums an den Rachefeldzug unter Vespasian einige Jahr zuvor, bei dem die römischen Soldaten hunderte junger Männer ermordeten, ihre Familien versklavten und ihren Besitz plünderten sowie die Stadt niederbrannten.

Auf jeden Fall ist die Region Gerasa für damalige Ohren ein sehr symbolischer Ort der Konfrontation mit den Legionen Roms, mit ihrer militärischen und wirtschaftlichen Ausbeutung. Auch Jesus selbst wuchs unter diesen Lebensbedingungen im Dorf Nazareth auf. Denn seine Nachbarstadt Sepphoris wurde in den Jahren seiner Kindheit von den römischen Besatzern erobert und niedergebrannt, ihre Bewohner_innen gekreuzigt oder versklavt. Herodes Antipas ließ die Stadt dann durch Bauhandwerker wie Jesu Vater wieder aufbauen. Diese Bilder massenhafter Kreuzigungen und verkohlter Häuser haben Jesus in seiner Jugendzeit sicherlich geprägt. In diesem harten, ausbeuterischen Alltag der armgemachten Bevölkerung lebt und handelt der erwachsene Jesus.

Doch wie zeigt sich nun die dämonische, zerstörerische Macht im Markusevangelium Kapitel 5? Und wie handelt Jesus? Der Mann lebt zwischen den Gräbern und ist vom Dämon Legion besessen. In politischen Diktaturen gilt geistige Krankheit oft als gesellschaftlich akzeptierter Protest (oder als Flucht) gegen die Unterdrückung, so die Sozialpsychologie. Der Hass gegen die Unterdrücker muss unterdrückt werden. Er führt zum Rückzug in eine innere Welt, in der Widerstand gegen die römische Diktatur noch möglich ist. Heute würden wir vielleicht eine Psychose oder eine Posttraumatische Belastungsstörung oder ähnliches erkennen, die den Mann in den Wahnsinn treiben.

Durch den Familienvater im heutigen Afghanistan erkenne ich, dass es mit dieser persönlichen Ebene nicht endet. Wir wissen, es gibt einen gesellschaftlichen Zusammenhang (11. September, Krieg gegen den Terror, Wirtschaftsmacht,…) Und auf dieser Ebene stellt der Dämon Legion die gemeinsame Angst vor dem römischen Imperialismus dar. Das Land, die Menschen, seine Wirtschaft sind „besetzt“, die Mächte haben die Menschen im Griff: Markus beschreibt dies in sehr plastischen Bildern (Kapitel 5,3-5), er spricht von Ketten, Handfesseln, Fußeisen, bändigen. Der Ärger des Volkes über die Unterwerfung muss unterdrückt werden, wird dann gegen sich selbst gewendet und führt zu selbst verletzendem Tun; auch das bewirkt die Macht des Dämons.

In diese Lebenswirklichkeit greift Jesus mit seinem symbolischen Handeln ein. Er befiehlt den Dämonen des römischen Militärs, ihre Macht über den Mann aufzugeben. Und er vernichtet sie im tiefen Wasser.

Diese politische Befreiung von der militärisch-wirtschaftlichen Macht Roms scheint so unmöglich, dass Markus in Kapitel 5,15 zusammenfassend bekräftig: Jesus hat es getan. Und auch die Bevölkerung reagiert nachvollziehbar: Sie haben Angst vor der Vergeltung der römischen Macht und bitten Jesus, ihr Gebiet zu verlassen (5,15+17). Der geheilte Mann, er lebt ja jenseits des Jordans, also im „heidnischen“ Gebiet, möchte Jesus begleiten, aber noch ist die Zeit dieser weltweiten Ökumene nicht angebrochen. Jesus sendet ihn zu den Menschen dort, um von Gottes Handeln an ihm und von Gottes Herz für die Armgemachten zu berichten.

Immer dann, wenn Jesus im Markusevangelium den damaligen Autoritäten erstmals entgegentritt, trifft er auf Wiederstand in Gestalt eines Dämons – hier sind es die militärischen (im 1. Kapitel ab Vers 21 die religiösen) Machthaber. Es kommt zur verbalen Konfrontation und Vertreibung der dämonischen Macht. Und dieses zeichenhafte Handeln bricht die entscheidende Schneise in die Festung des römischen Imperiums. Jesus zwingt die politischen (und religiösen) Autoritäten, ihre Macht über die Menschen aufzugeben und sie in ihre Freiheit zu entlassen. Jesus eröffnet Raum für das Reich Gottes, Gottes Gegenwirklichkeit. Dies geschieht, damit Jesus daraufhin seinen Dienst der Heilung und Befreiung der Armgemachten beginnen kann (so z.B. im 1. Kapitel ab Vers 29 für die „Juden“ und im 6. Kapitel ab Vers 53 für die „Heiden“).

Grundsätzlich stellen die Wundererzählungen Jesu gesellschaftliche Konflikte dar. Sie weisen uns auf Strukturen von Macht und Entfremdung hin. Jesus leidet mit den religiös oder politisch oder wirtschaftlich Armgemachten, die von Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheit und Behinderungen ge-quält werden. Sie sind ausgeschlossen vom guten Leben. Im zeichenhaften Handeln Jesu geschieht konkrete Befreiung der Unterdrückten und Ausgegrenzten. Ich verstehe Jesu Handeln nicht mechanistisch, übernatürlich, indem es Naturgesetze manipuliert, sondern indem es die herrschende Ordnung der Unterdrückung konfrontiert. Jesu Wunderhandeln ist wiederherstellend, es befreit zur Teilhabe am Leben und an der Gesellschaft. In den Evangelien können wir diese Praxis von Gottes alternativer Königsherrschaft lernen. Sie ist geleitet von Mitgefühl und Solidarität, Teilhabe und Gerechtigkeit.

Was Gottes Reich, also Gottes Gegenwirklichkeit, heute für die Menschen fordert, die in Afghanistan und weltweit unter der militärisch-wirtschaftlichen Ausbeutung der USA und ihrer (deutschen) Verbündeten leiden, ist wohl deutlich. Und Jesus ermutigt uns, Teil seines Befreiungshandelns zu werden. Für mich ist das Haus der Gastfreundschaft ein Versuch, mich vom zeichenhaft-politischen Handeln Jesu begeistern zu lassen und davon zu leben, was ich verstanden habe. Jede und jeder kann eigenes Handeln beginnen, große Projekte oder kleine Alltagsdinge …

Hier zwei Ideensammlungen, die mich selbst immer wieder inspirieren: www.atd-viertewelt.de/5_1.html und www.thesimpleway.org/resources/details/50-ways-to-become-the-answer-to-our-prayers.

(Ein großer Dank geht an die Autoren von „Jesus for President“ Shane Clai-borne und Chris Haw (auch auf Deutsch erhältlich), sowie an Ched Myers für „Binding The Strong Man“. Sie haben mir die Augen geöffnet für das greifbare! ganz konkrete! gesellschafts-politische Handeln Jesu.)



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