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Im Armen begegne ich Christus: Mystik und Politik- von Franziskus bis Dorothy Day

von Angelika Sirch / September 2012

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, den Dr. Angelika Sirch 2009 in Klosterbeuron hielt. Wir druckten ihn im Rundbrief stark verkürzt ab. Hier nun der Vortrag in voller Länge.

Ich möchte mit einer kleinen Geschichte beginnen, die ich kürzlich erlebt habe: ich saß im Zug und der Schaffner kam, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Ein paar Reihen vor mir entwickelte sich ein unfreundliches Gespräch zwischen ihm und einem Fahrgast, der offensichtlich keine Fahrkarte hatte, aber den Schaffner wüst beschimpfte. Der Schaffner kannte den Mann wohl und gab ebensolche Worte zurück. Es hörte sich so an, als hätte er den Mann schon häufig im Zug ohne Fahrkarte angetroffen. Schließlich ordnete er an, dass der Mann beim nächsten Halt aussteigen solle, denn er konnte nichts bezahlen. Ich wollte ebenfalls dort aussteigen und traf den „Schwarzfahrer“ vor dem Ausstieg: es war ein sehr verwahrloster älterer Mann, vermutlich ein Obdachloser, ein Penner. Sie können sich wohl schon denken, warum ich diese Geschichte erzähle: es fällt mir äußerst schwer, in so einem Menschen Christus zu erkennen und vielleicht geht es Ihnen auch so. Trotzdem kennen wir vermutlich alle die Stelle aus der Rede vom Weltgericht, in der Jesus sagt: „was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40) Hätte ich also dem Mann eine Fahrkarte bezahlen sollen? Ich habe es nicht getan. Hätte er das denn verdient – unfreundlich und ungepflegt, wie er war?

Doch genau solche Menschen sind vermutlich gemeint, wenn es in dieser Rede heißt: ich war hungrig, durstig, ohne Kleidung, ohne Wohnung ,und die einen helfen, andere nicht. Zu den einen, die auf solche Leuten zugehen, ja sie sogar umarmen konnten, gehört der heilige Franziskus.

Il Poverello - Franziskus von Assisi (1182-1226)

Franziskus, der in einer sehr wohlhabenden Familie in Assisi  aufgewachsen war, erlebte nach 1203, ausgelöst durch Kriegsgefangenschaft und Krankheit, eine Krise, die ihn zu einer radikalen Nachfolge Christi führte. Ein entscheidender Augenblick in seinem Leben war die Begegnung mit einem Aussätzigen, vor dem er zunächst fliehen wollte, den er aber dann, plötzlich erschüttert, umarmte und küsste.

Franziskus begann danach ein Leben in völliger Armut und einer dadurch neu gewonnenen Freiheit. Freunde schlossen sich ihm an, und schließlich entstand eine Ordensgemeinschaft, die sich dem Dienst an den Armen und der Predigt widmete. Die Minderbrüder, wie sie sich nannten, lebten in der Welt, sorgten für Kranke und arbeiteten als Tagelöhner. Sie entzogen sich aber gleichzeitig den gesellschaftlichen Regeln, indem sie es ablehnten, Waffen zu tragen oder einen Eid abzulegen.

n dieser Geschichte ist schon alles enthalten, was der Titel meines Vortrags ankündigt. Franziskus hat in diesem armen Aussätzigen Christus erkannt, Franziskus gilt als Mystiker und die Lebensbeschreibung der Minderbrüder deutet auch auf Politik hin, wenn von gesellschaftlichen Regeln die Rede ist, die abgelehnt werden, denn diese Ablehnung geschah nicht aus einer Laune heraus oder aus Faulheit, sondern darin steckte ein nicht geringes Maß an Kritik gegenüber den allgemeinen gesellschaftlichen und nicht zuletzt auch kirchlichen Verhältnissen. Bevor ich nun weitere Geschichten erzähle, ist es nötig, erst einmal die Begriffe zu klären:

Was ist gemeint mit Mystik und Politik?

Mystik ist ein sehr weiter Begriff und wird oft synonym verwendet zu Esoterik oder Spiritualität. Wenn ich hier von Mystik spreche, meine ich speziell christliche Mystik und verstehe darunter eine Antwort auf die zuvor überwältigend erfahrene Anrufung Gottes. Dieser Anruf Gottes bewirkt plötzlich oder allmählich eine innere Wandlung im angesprochenen Menschen und wird auch dann noch als prägend empfunden, wenn der oder die so Gerufene den Eindruck hat, in einer innerlichen Wüste zu leben, eine dunkle Nacht zu erleben, an Gott zu zweifeln beginnt und ähnliches. Betonen möchte ich dabei, dass der Anruf immer auch ein auf die Gemeinschaft bezogenes Engagement verursacht. Als Kennzeichen christlicher Tiefenerfahrung gilt nicht die Intensität der Empfindung, die Größe der Erkenntnis oder der ‚andere Zustand’, sondern die praktische Umkehr des täglichen Lebens.

Auch zu Politik gibt es verschiedene Definitionen. Ich orientiere mich nicht an der engeren Bedeutung, die unter Politik die Fähigkeit von Spezialisten meint, erfolgreich nach den Regeln des Machtgewinns, der Konsensbildung und der Konfliktlösung zu handeln. Zuständig für Politik in diesem Sinne sind also besondere Menschen - Politikerinnen und Politiker – und nur oder vor allem diese tragen Verantwortung für die Entwicklungen und Entscheidungen im gesellschaftlichen Bereich.

Wenn ich hier von Politik rede, verwende ich den Begriff Politik in weiterem Sinne und meine jedes gesellschaftlich relevante Handeln von Menschen, auch in kleinen Kreisen, wenn zum Beispiel eine Gruppe von Eltern beschließt, die Kinder nicht in den Privatautos zum Fußballverein zu fahren, sondern mit dem Bus fahren zu lassen, auch wenn damit ein größerer Aufwand verbunden ist.  Im Unterschied zu alltäglichen, also nicht politischen, Zusammentreffen von Menschen (etwa beim Kaffeeklatsch oder im Sportstudio) will dieses allgemein gesellschaftliche, also politische Handeln im weiteren Sinne, dem Einsatz für mehr Gerechtigkeit dienen.

Die Frage ist nun: Sind Mystik und Politik gegensätzliche Bereiche? Heißt es im Normalfall: Aktion oder Kontemplation? Ist eine Ergänzung nur in Ausnahmefällen wie eben bei Franziskus wirksam, oder kann man tatsächlich sagen: „Je mystischer wir Christen sind, um so politischer werden wir sein.“[1]

Ich denke, es ist klar, dass ich davon überzeugt bin, dass sich Mystik und Politik konstruktiv ergänzen, wie es ja auch die Handlungsmaxime der Benediktiner - ora et labora - ausdrückt. Als Beleg für diese wirkungsvolle Ergänzung möchte ich weitere Lebensgeschichten heran ziehen. Sie sind nach keinem bestimmten Plan ausgesucht, eher nach persönlichen Vorlieben. Es sind nur Frauen, aber ich hätte auch Männer vorstellen können. Ich greife einen Zeitraum heraus, der an Franziskus anschließt und bis ins 20. Jahrhundert reicht, aber es gäbe auch Beispiele vor Franziskus und nach Dorothy Day.

Elisabeth von Thüringen oder: Ein Versuch, Armut hoffähig zu machen

Über Elisabeth von Thüringen gibt es eine Legende, die den Titel meines Vortrags direkt widerspiegelt: Elisabeth öffnete einem Aussätzigen die Türe und  bat ihn ein, betroffen von dessen Anblick.  Sie versorgte seine Wunden, gab ihm zu essen und zu trinken und ließ ihn schließlich im eigenen Bett schlafen, weil sie in ihm Christus erkannte.  Die Legende erzählt dicht und schonungslos, worum es geht: in jedem Menschen tritt uns Christus entgegen und unser Verhalten sollte sich daran messen lassen.

Elisabeths Einsatz verbindet sehr deutlich Mystik und Politik. Da ist zum einen die tiefe Verwurzelung im Glauben und zum anderen – daraus erwachsen –  ein radikales gesellschaftliches Engagement, das versucht, die Zuneigung zu Armen sozusagen hoffähig zu machen. Mit anderen Worten: Reichtum verpflichtet, oder: je mächtiger ich bin, desto fürsorglicher kann ich sein. Wir wissen vermutlich alle, dass Elisabeth mit diesem Einsatz auf den ersten Blick gescheitert ist: der geliebte Mann kam während eines Kreuzzugs ums Leben, die Verwandten verstießen Elisabeth von der Burg und sie starb im Alter von nur 24 Jahren, völlig entkräftet von der schweren Arbeit in dem Krankenhaus, das sie gründete. Dennoch hinterlässt ihr Leben eine starke Leuchtspur bis in unsere Zeit.

Mechthild von Magdeburg, oder: Poetische Literatur und gesellschaftliches Engagement

Auch Mechthild von Magdeburg (1207-1282) war eine Adelige. Bis heute bekannt ist sie durch ihr Buch Das fließende Licht der Gottheit, das sie in der Sprache des Volkes und der Armen, verfasst hat. Darin verband sie die Brautmystik des Hohen Liedes mit der Poesie des höfischen Minnesangs und beschrieb so ihre besondere Beziehung zu Gott, der für sie nicht einfach eine höhere Macht war, sondern ein wirkliches liebendes Du. Dieses Werk war zu Mechthilds Zeit sehr umstritten, weil sie sich als Frau, die also auch keine Universitätsbildung hatte, anmaßte, Weisheiten über Gott zu verkünden und das nicht in Latein, der Sprache der Gelehrten, sondern in gewöhnlichem Deutsch. Das war ungewöhnlich - mehr noch - das schien für die Kirche gefährlich zu sein.

Weniger bekannt ist, dass auch sie sich sehr für Arme eingesetzt hat. Sie kümmerte sich um Ausgestoßene, Kranke, Sterbende, Witwen und Waisen, schenkte ihnen menschlichen und geistlichen Beistand und linderte - soweit es ihr möglich war, auch deren materiellen und körperlichen Nöte. Mechthild engagierte sich nicht allein, sondern hatte sich einer Gemeinschaft von Beginen ange­schlossen. Diese Frauen lebten fromm aber ohne offizielle Ordensregel in Wohngemeinschaften und teilten ihren Besitz miteinander. Sie verdienten ihr Geld mit Handarbeiten oder lebten von Spenden und leisteten soziale Dienste. Allein lebende junge Frauen, das galt damals als Skandal, und weil sie sich nicht den Regeln der Kirche unterordneten, mussten sie viele Schmähungen und Anfeindungen ertragen. Mechthild war jedoch eine selbstbewusste, tapfere Frau, die ihre Mitschwestern immer wieder ermunterte, ihre Arbeit unter den Hilfsbedürftigen fortzusetzen.

Katharina von Siena, oder: Die (kirchen-) politische Agitatorin

Katharina von Siena (1347-1380) war ebenfalls eine sehr mutige und tatkräftige Frau. Sie hatte schon als Kind beschlossen, als Ordensfrau zu leben und das gegen den Willen der Eltern durchgesetzt. 1363 trat sie in den Dritten Orden der Dominikaner in Siena ein und lebte dort zunächst weiter in asketischer Strenge gegen sich selbst. Nach einer Vision gab sie jedoch ihr zurückgezogenes Leben auf und widmete sich der Pflege von Kranken und Armen.

1369 lernte Katharina das Lesen, um die Bibel studieren zu können. Ab 1370 schrieb sie Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten und wurde dabei gelegentlich von bis zu drei verschiedenen Sekretären gleichzeitig unterstützt. 1374 musste sie ihr ungewöhnliches Verhalten und ihre Visionen vor dem Ordenskapitel der Dominikaner in Florenz rechtfertigen, konnte jedoch alle Bedenken ausräumen und durfte fortan in offiziellem Auftrag der Kirche reisen und predigen. Auf diese Weise mischte sie sich energisch in politische Angelegenheiten ein. 1376 reiste Katharina mit Raimund von Capua, ihrem geistlichen Führer, nach Avignon, und konnte Papst Gregor XI. überzeugen, nach Rom zurückzukehren. In ihren insgesamt 14 Briefen an den Papst forderte sie unter anderem eine Kirchenreform, die sich an der Armut des Anfangs orientieren sollte; sie verlangte, dass der Korruption eines Großteils der Hierarchie beendet werde und meinte, Kardinäle und Klerus sollten sich mehr um die Seelsorge kümmern.  Katharina von Siena ist zur Kirchenlehrerin ernannt worden – das bedeutet eine nachträgliche Anerkennung dieses Engagements.

Angela Merici, oder: Umfassende Bildung für Frauen

Angela Merici (1470-1570) lebte in Norditalien, zur selben Zeit wie Kopernikus, Kolumbus, Martin Luther und Theresa von Avila, also in einer von großen Umwälzungen geprägten Epoche. Auch sie übernahm auf Grund ihres Glaubens gesellschaftliche Verantwortung. Die Armen in ihrer Geschichte sind Mädchen und Frauen, die in Bezug auf Bildung deutlich gegenüber Jungen und Männern benachteiligt waren (und es vielfach heute auch noch sind).

In Brescia hatte Angela Merici die Gesellschaft der Göttlichen Liebe kennen gelernt, eine Gemeinschaft von Männern, die in Hospitälern arbeiteten und sich für eine religiöse Erneuerung einsetzten. Angela versammelte nach diesem Vorbild einen ähnlichen Kreis von Frauen. Zusammen mit ihren Gefährtinnen betreute sie Jugendliche und half Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten mit Rat und Trost. Angela schlug einen Weg ein, der nicht den sozialen Gepflogenheiten entsprach. Die Mitglieder ihrer Gemeinschaft konnten weiterhin in ihren Familien leben oder, wo dies nicht möglich war, mit zwei oder drei aus der Gemeinschaft zusammen wohnen. Sie befolgten die evangelischen Räte, trugen aber keine Ordenstracht und widmeten sich vor allem der Erziehung und Unterrichtung der weiblichen Jugend, vor allem der Mädchen aus den armen Volksschichten. Angela Merici hat als Ordensgründerin nie versucht, den Schwestern den Lebensstil, die Art ihrer kirchlichen Dienste oder gar ihrer Spiritualität im einzelnen vorzuschreiben. Sie wusste wohl, dass sich die Zeiten ändern würden und dass sich ihre Gemeinschaft, wenn sie ihre dynamische Kraft behalten wollte, den Zeitverhältnissen anpassen müsste. Das Zweite Vatikanum nannte dieses Prinzip aggiornamento – Anpassung an die Zeit.

Vom Beginn der Neuzeit, in der Angela lebte, machen wir jetzt einen Zeitsprung fast in die Gegenwart: Ich stelle Ihnen eine Frau vor, deren Lebensdaten beinahe denen meiner Großmutter gleichen, also ein Beispiel nahe an unserer Zeit:

Dorothy Day - Journalistin, Anarchistin, Christin, Friedensaktivistin, Mystikerin

Vielleicht erschreckt Sie die Zuschreibung Anarchistin. Dorothy Day hatte tatsächlich eine politisch zuweilen radikal anmutende Gesinnung, womit jedoch keineswegs Zerstörung oder Chaos gemeint ist. Ebenso wie ihre anarchistischen Vorbilder des 19. Jahrhunderts lehnte sie Herrschaft jeglicher Art ab, im Gegensatz zu den meisten Anarchisten nicht jedoch eine religiöse Bindung. Die Idealform eines anarchistischen Zusammenlebens, wie es Dorothy Day verfolgte und vorlebte, kann so beschrieben werden: Ein geduldiger, großzügiger und tatkräftiger Einsatz für Andere, ohne über Andere herrschen zu wollen, erfordert ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und einen starken inneren Halt, den Day im Glauben fand. Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, Mitmenschen sein zu lassen, anzunehmen mit allen Schwächen und Fehlern, wodurch sie ein hohes Maß an Selbstbestätigung und Würde erfahren, zugesprochen bekommen, zurückgewinnen, was wiederum dazu führen kann, dass sie sich ihrer Stärken bewusst werden und ihrerseits und freiwillig Verantwortung übernehmen und mit ihren Fähigkeiten zu einem gelungenen Miteinander beitragen.

Kindheit und Jugendzeit

Dorothy Day wurde am 8. November 1897 in New York geboren. Ihre Eltern gehörten der anglikanischen Kirche an, praktizierten ihren Glauben aber nicht. Die Familie, zu der noch drei Brüder und eine Schwester von Dorothy gehörten,  zog 1903 nach Kalifornien und 1906 nach Chicago, wo Dorothy 1914 die höhere Schule abschloss. Ein Stipendium ermöglichte ihr ein Studium an der Universität von Illinois. Nachdem ihre Familie wieder nach New York gezogen war, brach Dorothy das Studium ab und arbeitete als Journalistin, obwohl ihr Vater das mit allen Mitteln zu verhindern suchte. 1917 kam Day zum ersten Mal ins Gefängnis, weil sie sich der Frauenbewegung angeschlossen hatte, die vor dem Weißen Haus gegen den Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht demonstrierten.

Turbulente Zeiten: 1918-1927

Unter dem Eindruck des Krieges begann Day eine Ausbildung zur Krankenschwester, zog mit einem Mann zusammen, wurde schwanger und ließ ihm zuliebe das Kind abtreiben.  Er verließ sie trotzdem. Dorothy Day heiratete kurz darauf einen wesentlich älteren Mann, reiste mit ihm durch Europa und lebte ein halbes Jahr auf Capri, wo sie eine Novelle schrieb, in der sie ihre leidvollen Erfahrungen autobiografisch verarbeitete. Die Ehe wurde schon nach einem Jahr wieder geschieden und Day übernahm in Chicago und New Orleans Jobs als Journalistin, bis ihr der Verkauf der Filmrechte für ihr Buch soviel Geld einbrachte, dass sie sich ein kleines Strandhaus auf Staten Island kaufen konnte. Dort lebte sie mit Forster Batterham zusammen,  einem bekannten Biologen und  Anarchisten. Obwohl die Ärzte ihr bescheinigt hatten, dass sie kein Kind mehr bekommen könnte, wurde Dorothy Day wieder schwanger und brachte 1926 die Tochter Tamar zur Welt. Dieses Ereignis war für Day ein großes Glück und führte sie schließlich zur katholischen Kirche, weil sie ihrem Kind eine sichere Heimat geben wollte. Aber ihr Lebensgefährte lehnte diesen Weg

entschieden ab und trennte sich von ihr. Day zog wieder nach New York, trat in die katholische Kirche ein und ließ sich taufen. Es folgten einsame Jahre als allein erziehende Mutter mit wechselnden Jobs in New York, Staten Island, Hollywood und Mexiko.

Die Catholic Worker Bewegung

Im Winter 1932 traf sie Peter Maurin, einen 20 Jahre älteren französischen Immigranten. Diese Begegnung brachte eine neue Wende in ihr Leben. Der ehemalige Ordensmann hatte die Vision einer erneuerten christlichen Gesellschaft und fand in Day die ideale Partnerin zur Verwirklichung seiner Ideen. Die beiden gründeten die Zeitung The Catholic Worker, die am 1. Mai 1933 zum ersten Mal erschien. Die Artikel der Zeitung drückten Unzufriedenheit mit der sozialen Lage aus, aber sie waren nicht nur radikal, sondern auch religiös. Schon bald fragten die Leser nach einer konkreten Verwirklichung der propagierten Ideen.

Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan

Day und Maurin griffen die alte christliche Praxis der Gastfreundschaft den Wohnungslosen gegenüber auf. Sie mieteten ab 1934 Wohnungen und später Häuser, um die Not leidenden Menschen aufzunehmen und ihr Beispiel wurde nachgeahmt. Freiwillige kamen dazu, um mit zu helfen und weitere Häuser wurden eröffnet. Die Catholic Worker wurden zur nationalen Bewegung. Sie errichteten Suppenküchen und Kleiderkammern, organisierten aber auch Diskussionsrunden und Vorträge und sorgten dadurch für Information und Bildung in einer vernachlässigten Bevölkerungsschicht.

Ein weiteres zentrales Thema im Catholic Worker war von Anfang an der Pazifismus. Auch bei Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg blieb Day bei dieser Haltung und forderte die Leserinnen und Leser auf, Werke der Barmherzigkeit zu üben, statt zu kämpfen. Die jungen Männer, die sich während des Krieges mit der CW-Bewegung identifizierten, verbrachten einen Großteil der Kriegsjahre meist im Gefängnis oder in ländlichen Arbeitslagern. Einige leisteten Dienst als unbewaffnete Sanitäter. Darüber hinaus bekämpften die CW den Antisemitismus und engagierten sich in der  Bürgerrechtsbewegung. Diese Aufzählung zeigt, dass Dorothy Day in vielfältiger Weise politisch tätig war. Ihr gesellschaftliches Engagement wurde bestärkt durch die Orientierung an Christus, also durch ihre tiefe Verwurzelung im Glauben.

Dorothy Day eine Mystikerin

„Je mystischer wir Christen sind, um so politischer werden wir sein“ – in diesem Sinne ist die Lebensgeschichte von Dorothy Day  ein eindrucksvolles Beispiel. Gerade aufgrund ihrer mystischen Erfahrung, die häufig als Vision der Einheit, der Ganzheit und der Gerechtigkeit erlebt wird , reagieren Mystiker nicht selten „mit einem rückhaltlosen Einsatz“ angesichts der „menschlichen Gebrochenheit von reich und arm, Hass und Liebe, Krieg und Frieden, Unterdrückung und Freiheit.“ Aber nicht  „was der Mystiker tut, ist das Eigentliche, sondern wie er es tut“ und vor allem aus welchem Grund. Der spirituelle Lehrer und Schriftsteller Henri Nouwen beschreibt das sehr anschaulich: Mystische Menschen wurzeln an der Quelle des Lebens und sind deshalb fähig, „flexibel zu bleiben, ohne alles beliebig zu relativieren; einen festen Standpunkt zu vertreten, ohne starr zu sein; eine ausgeprägte Meinung zu  haben, ohne andere vor den Kopf zu stoßen; gütig und verständnisvoll zu sein, ohne in konturlose Weichheit zu verfallen; wirkliche Zeugen zu werden, ohne die anderen zu bedrängen und zu manipulieren.“

Aus dieser Quelle des Lebens schöpfen Mystikerinnen und Mystiker eine Kraft, die sie durchhalten lässt, während andere schon lange aufgegeben haben, die sie aufrecht hält, selbst wenn sie sich machtlos fühlen, die ihnen über tote Punkte hinweg hilft und das Leben wieder möglich macht.

Schluss: Konsequenzen im Umgang mit Armen

Welche Schlussfolgerungen könnten wir jetzt ziehen im Hinblick auf das Thema: Im Armen Christus begegnen?

Wenn wir die Aufforderung – im Armen begegne ich Christus –  wirklich ernst nehmen, dann werden wir zu armen Menschen liebevoll und zärtlich sein, wie Franziskus es war, oder ihnen ebenso mit Achtung, Respekt begegnen, wie Dorothy Day.  Es geht darum, ihnen Ansehen zu verschaffen, sie also an zu sehen, nicht an ihnen vorbei oder über sie hinweg. Sie sollten zum Subjekt werden, nicht (nur) als passive Hilfsempfänger behandelt werden, also mitreden und mitbestimmen dürfen, Verantwortung überlassen oder übertragen bekommen. Auf diese Weise ist es möglich, in den Armen Christus zu ent-decken, in den beiden Bedeutung von erkennen und von sichtbar machen. Das heißt, ich sehe über das vielleicht abstoßende, verwirrende, gelegentlich überfordernde Äußere eines armen Menschen hinweg oder hindurch und erkenne, entdecke ihn so, wie Gott ihn geschaffen hat, als ein Mensch mit guten Gaben und einer unvergleichlichen Würde, nämlich als Ebenbild Gottes. Schon so ein aufmerksamer, anerkennender Blick kann Menschen gut tun, manchmal verwandeln.

Zurück zur Eingangsgeschichte: Wie also nun mit dem verwahrlosten Mann umgehen? Ich habe ihn angeschaut, aber er hat meinen Blick überhaupt nicht bemerkt. Mein Blick war, denke ich, nicht mitleidig oder verächtlich, sondern eher neugierig - trotzdem hatte er keine Wirkung - ich habe also, mit anderen Worten, Christus nicht ent-decken können.

Vielleicht fehlt an der Geschichte das Wichtigste: eine Begegnung findet nur statt, wenn von beiden Seiten eine Bewegung geschieht und damit meine ich nicht nur die Schritte, die man aufeinander zugeht. In beiden Personen, die sich treffen muss eine innere Veränderung statt finden, eine Verwandlung – auf der einen Seite vielleicht die, dass eine Person sich öffnet, ihre Wunden, Verletzungen zeigt, auf Bedürfnisse aufmerksam macht, um Hilfe bittet.... auf der anderen Seite eine Wandlung von Gleichgültigkeit oder Abwehr zu Betroffenheit und Anteilnahme. Erst dann kann wirklich von einer Begegnung gesprochen werden und davon, dass man nicht nur einem Armen begegnet, sondern Christus. Christus ist dann nicht (nur) im Armen erkennbar, sondern mitten drin in dieser Begegnung, also mitten unter ihnen.


[1]              Wie es die Synode von Stuttgart-Rottenburg 1985/86 (in Anlehnung an Karl Rahner) als Motto formulierte.

 

 



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