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Vom Lassen der Gewalt

Rezension von Michael Schmid/ November 2020

"Vom Lassen der Gewalt" - so lautet der Titel eines neu erschienenen Buches mit Texten von Ullrich Hahn. Darin geht es um gewaltfreies Leben und Handeln. Seine eigene Kriegsdienstverweigerung 1972 - als Reservist des Bundesgrenzschutzes - war für den Autor zugleich eine Lebensentscheidung für den Gewaltverzicht, für das Lassen der Gewalt. Diese damals getroffene Grundentscheidung zieht sich in vielfältiger Weise durch dieses Buch.

Annette und Thomas Nauerth ist es zu verdanken, dass dieses Buch überhaupt entstanden ist. Sie wollten Ullrich Hahn zu dessen 70. Geburtstag überraschen und wählten über 50 seiner Texte für ein Buch aus. Dabei handelt es sich vor allem um Vorträge oder Gesprächsbeiträge aus den vergangenen mehr als zwei Jahrzehnten.

Ullrich Hahn arbeitet als Rechtsanwalt in Villingen-Schwenningen. Schwerpunkte seiner anwaltlichen Tätigkeit waren über lange Jahre die Begleitung von Kriegsdienstverweigerern und die Verteidigung von Totalverweigerern, aber auch bis heute die Vertretung von Asylbewerbern und Ausländern sowie die Strafverteidigung. Seit 1973 gehört er dem deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes an, dessen Präsident er seit zehn Jahren ist, nachdem er zuvor 14 Jahre lang Vorsitzender war. Weil ihm kleine Initiativen und Projekte wichtig sind, in denen Menschen ein herrschaftsfreies, gerechtes Zusammenleben einüben, liegt ihm vor allem die Arbeit in der Versöhnungsbund-Regionalgruppe Schwarzwald-Baar am Herzen. Und dann war er u.a. maßgeblich an der Gründung des Lebenshauses und des Nudelhauses in Trossingen beteiligt. Seit er den Kriegsdienst verweigert hat, lehnt er Militär in all seinen Erscheinungsformen grundsätzlich ab. Ab 1973 war er kirchlicher Beistand für Kriegsdienstverweigerer und zudem über viele Jahrzehnte in verschiedenen Gremien der Evangelischen Landeskirche Baden tätig.

Diese engagierte Praxis spiegelt sich in fast allen Texten des Autors wider. Indem er seine Ausführungen mit selbst Erlebtem veranschaulichen kann, wirken sie authentisch und überzeugend. Da Ullrich Hahn gleichzeitig ein sehr belesener Mensch ist, fließen Gedanken zahlreicher Autorinnen und Autoren in seine Überlegungen zu Gewalt und Gewaltfreiheit ein. Dabei spielen einige Menschen für ihn eine herausragende Rolle, in denen er Vorbilder sieht: neben der Person Jesu sind dies vor allem Leo Tolstoi, Gandhi, Gustav Landauer, Hannah Arendt, Immanuel Kant, Simone Weil und Meister Eckhart. Manchen von diesen Persönlichkeiten hat er auch schon einen eigenen Vortrag gewidmet.

Wenn Ullrich Hahn zu Vorträgen, Gesprächen oder Predigten eingeladen wird, nimmt er aus seiner Grundhaltung der Gewaltfreiheit heraus Stellung zu aktuellen Fragen aus den Bereichen Theologie, Politik, Ethik und Recht. Dabei unterstreicht er: "Politisches Handeln unter der Bedingung des Gewaltverzichts ist nicht irreal, sondern geschieht in dieser Welt unter den gleichen Umständen, wie sie sich auch den ‘Realpolitikern’ bieten. Aus dem Gewaltverzicht oder zugleich mit ihm ergeben sich aber andere Handlungsgrundsätze und -formen." (S. 275f.)

So sind im Lauf der Zeit Teilaspekte einer Ethik des Gewaltverzichts entstanden, einer Ethik, die nicht am Zweck, sondern an den eingesetzten Mitteln orientiert ist.

Kann eine solche Haltung zu etwas führen außer zu Enttäuschung? Ullrich Hahns Antwort auf diese Frage: "Die Aufforderung zum ‘Nein’ zur Gewalt im Alltag verspricht keine schnellen Ergebnisse. Es geht schlicht um die Frage, auf welcher Seite wir stehen wollen, ob wir Partei ergreifen für die Opfer struktureller Gewalt oder für die verantwortlichen Täter, ob wir Partei ergreifen für das Recht oder für das Unrecht, ob wir auf der Seite der Unbewaffneten stehen oder bei den Bewaffneten, ob wir bei denen sind, die draußen stehen, oder bei denen, die drinnen die Tür zumachen." (S. 58)

Mir persönlich geht es so, dass ich die Vorträge und Texte von Ullrich Hahn als Anregung zum eigenen Nachdenken und sehr bereichernd empfinde. Seine Gedanken sind oft originell und zeigen einen für mich zumeist plausiblen Weg zum gewaltfreien Leben und Handeln. Sie sind gut lesbar, oft nur in knapper Thesenform ausgeführt. Den größeren Teil der im Buch zusammengestellten Texte kannte ich zwar bereits. Auf der Website von Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. (www.lebenshaus-alb.de), teilweise auch beim Versöhnungsbund (www.versoehnungsbund.de), lassen sich viele davon finden. Und dennoch, diese Zusammenstellung als Buch hat etwas für sich. So haben Annette und Thomas Nauerth die Texte nicht etwa chronologisch entsprechend ihrer Entstehung angeordnet, sondern in thematischen Kapiteln zusammengefasst. So werden Querbezüge leichter erkennbar.

Besonders spannend zu lesen war für mich zudem ein biographischer Rückblick von Egon Spiegel, in dem er Einblicke in das gemeinsame Engagement mit Ullrich Hahn in einem Arbeitskreis der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) Freiburg gibt. Der Schilderung nach muss das eine sehr wichtige Begegnung hinsichtlich des weiteren Wegs der Beteiligten gewesen sein.

Diesem Buch von Ullrich Hahn, herausgegeben als 10. Band der edition pace, wünsche ich eine weite Verbreitung. Wie überhaupt die von Thomas Nauerth und Peter Bürger initiierte edition pace von allen an Gewaltfreiheit interessierten Menschen Beachtung verdient. Mit dieser verdienstvollen Publikationsreihe werden Quellentexte erschlossen, Inspirationen und Forschungsbeiträge veröffentlicht, die förderlich sind für eine Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens.

Ullrich Hahn: Vom Lassen der Gewalt. Thesen, Texte, Theorien zu Gewaltfreiem Handeln heute. Herausgegeben von Annette Nauerth & Thomas Nauerth. edition pace 10, Norderstedt: BoD 2020. Paperback; 344 Seiten; 14,80 Euro. ISBN: 978-3-7519-4442-7
https://www.bod.de/buchshop/vom-lassen-der-gewalt-ullrich-hahn-9783751944427
Das Buch ist auch über die Geschäftsstelle des Versöhnungsbundes erhältlich: Versöhnungsbund, Schwarzer Weg 8, 32423 Minden, Tel. 0571-850875, E-Mail: vb@versoehungsbund.de. 



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