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"... damit die Welt uns nicht verändern möge" - Die Open Door Community in Atlanta/USA

von Dietrich Gerstner / Juni 2002

Im Februar diesen Jahres reiste Dietrich Gerstner in die USA, um dort die "Open Door Community" in Atlanta, Georgia zu besuchen. Im folgenden schildert er einige seiner Eindrücke.

Am 5. Februar komme ich bei trübem Wetter in Atlanta an. Eine Menge Erinnerungen steigen in mir hoch - meine zwei Jahre von 1986-88 hier in Atlanta waren eine sehr intensive Zeit gewesen. Die lange Zwischenzeit scheint wegzuschmelzen, als ich wenig später im vertrauten Haus in der Ponce De Leon Avenue ankomme. Aufgeregt betrete ich das Wohnzimmer und bin fast überwältigt, als ich gleich mehrere vertraute Gesichter sehe: Gemeinschaftsmitglieder und FreundInnen von außerhalb, die gerade zufällig da sind. Es ist ein bisschen wie Nachhause kommen. Dieses Erleben wiederholt sich in den nächsten Tagen immer wieder. Ich selbst war so viele Jahre weg, und andere sind immer noch da, kochen nach wie vor Woche für Woche Kaffee für hunderte von Menschen, besuchen regelmäßig Menschen in den Gefängnissen, oder sind immer noch obdachlos auf der Straße oder gefangen in einer Haftanstalt. Aber erst mal der Reihe nach.

 

"The Open Door Community"

ist eine christliche Lebensgemeinschaft von ca. 30 Frauen und Männern im Dienst an obdachlosen Menschen in Atlanta und an Gefangenen im Staat Georgia. Ein besonderer Schwerpunkt bei der Gefängnisarbeit liegt im Kampf gegen die Todesstrafe, die in den USA nach wie vor angewendet wird. Insofern ist das Bild der offenen Tür zweifach zu verstehen: Die Gemeinschaft möchte jenen, die ausgeschlossen sind, eine Tür nach drinnen, und jenen, die eingeschlossen sind, eine Tür nach draußen öffnen. Und dies nicht nur durch karitativen Dienst, sondern mindestens ebenso durch politische Arbeit gegen die Unrechtssituation, die viele Menschen im reichsten Land der Erde auf den Straßen sterben und in den zahllosen Gefängnissen verkommen lässt. Die "Open Door" Gemeinschaft ist inspiriert von Gemeinschaften wie "Koinonia Partners" in Süd-Georgia, wo schon in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts Rassen-Integration praktiziert wurde, und den "Häusern der Gastfreundschaft" der Catholic Worker Bewegung, weshalb die Gemeinschaft auch liebevoll als "protestantisches Catholic Worker Haus" bezeichnet wird. Ein typisches Merkmal dieser Bewegung ist die Verbindung von direktem Dienst, prophetischer Anklage im Lichte der Bibel und öffentlich-entlarvender Aktion.

Der Alltag ist geprägt von einer Vielzahl an Diensten für obdachlose Menschen: warmes Frühstück, Suppenküche, Kleiderkammer, Dusch-Möglichkeit, ärztliche Untersuchungen, ein kostenfreies Telefon für Ortsgespräche, bei kaltem Wetter zusätzliche Notübernachtungen etc. Diese Dienste werden von den Gemeinschaftsmitgliedern und den im Haus der Gastfreundschaft mitlebenden Menschen gemeinsam mit externen Freiwilligen angeboten. Dazu kommen die Besuche in verschiedenen Gefängnissen, v.a. im Todeszellentrakt in Jackson, das Engagement gegen die Todesstrafe und für soziale Rechte und vieles mehr. Wichtig ist bei der Arbeit, dass jedeR immer wieder darüber nachdenkt, warum sie oder er sie tut. Die gemeinsame Reflexion über das Erlebte nimmt deshalb breiten Raum ein, sei es direkt nach dem Austeilen des Frühstücks, in der Mittagsrunde vor dem Essen oder bei eigens angesetzten Diskussionsrunden. Und wöchentlich wird am Sonntagabend gemeinsam mit FreundInnen und Freunden von "drinnen und draußen" Gottesdienst mit Abendmahl gefeiert.

 

Eine Gemeinschaft im Wandel

Als ich 1986 in Atlanta ankam, war das "Open Door" noch eine junge Gemeinschaft. Lediglich fünf Jahre zuvor hatten sich zwei Ehepaare mit jeweils einem kleinen Kind zusammengetan, um diese Lebensgemeinschaft zu gründen. Aus jetziger Perspektive mit selbst über fünf Jahren Brot & Rosen-Erfahrung weiß ich, dass die Gemeinschaft damals noch im Aufbau begriffen war. Viele Menschen sind seither gekommen und wieder gegangen, was immer wieder auch mit Konflikten verbunden war und Schmerzen verursachte. Die Gemeinschaft hat sich im Laufe dieser Jahre verändert und weiter entwickelt. So gelang es z.B. in den Jahren nach meiner Zeit, die MitbewohnerInnen von der Straße immer mehr in die Lebensgemeinschaft zu integrieren. Heutzutage besteht die "Open Door"-Gemeinschaft aus euro- und afro-amerikanischen Mitgliedern, aus Menschen, die ehemals in der sog. Mittelklasse lebten und anderen, die schon immer "am Rande" standen. Diese Form des Zusammenlebens ist nach wie vor ziemlich einzigartig. Meistens bleibt es doch bei einer "für-Struktur". Nur selten gelingt es, dass zusammen mit den Ausgegrenzten für Befreiung aus Ungerechtigkeit gekämpft wird.

 

Doch die Probleme sind immer noch die alten ...

Die ursprünglichen Probleme der Obdachlosigkeit, des Rassismus und der menschenrechtswidrigen Todesstrafe sind allerdings geblieben. Zwar ist die Armut nach dem ökonomischen Aufschwung, den die USA seit Anfang der 90er Jahre erlebte, nicht mehr so sichtbar. Sichtbar ist viel mehr der enorme Reichtum der großen Firmen mit ihren glänzenden Wolkenkratzern und den schicken Häusern einer aufstrebenden Mittelschicht. An den realen Zahlen der obdachlosen Menschen hat sich aber nicht viel verändert. Auch im Zentrum globaler Wirtschaftsmacht gibt es viele ModernisierungsverliererInnen, die entweder auf der Straße, in schäbigen Sozialwohnungen oder, seit den 90er Jahren dramatisch zunehmend, in den Gefängnissen landen. Rassismus und soziale Ausgrenzung sind dabei lebendig wie eh und je, zumindest in den Südstaaten der USA. Statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass ein junger afro-amerikanischer Mann im Laufe seines Lebens im Knast landet, als dass er eine College-Ausbildung macht. Die meisten dieser Menschen sind zu arm, um sich einen angemessenen Rechtsbeistand leisten zu können. Entsprechend sieht es bei den zum Tod verurteilten Gefangenen aus: In den wenigen Monaten vor meiner Ankunft in Georgia waren fünf Männer hingerichtet worden - mittlerweile mit Giftinjektionen, da der elektrische Stuhl seit neuestem als ungewöhnlich grausame Strafe gilt. Was für ein Zynismus! Statt dessen sollte dieses brutale Bestrafungssystem, das auf dem Modell einer Sündenbock-Ideologie beruht, ganz abgeschafft werden.

 

Woher kommt die Kraft?

Seit über 20 Jahren engagieren sich die Mitglieder der "Open Door" Gemeinschaft für die Abschaffung der Todesstrafe und für soziale Lebensrechte für die Ausgegrenzten. Dabei geht es immer um konkrete Menschen. Um so tiefer wird der Schmerz empfunden bei jeder Niederlage im Kampf um das Leben. Wenn mensch diese Arbeit nur des Erfolges wegen tun würde, dann müsste sie als hoffnungslos und vergeblich gelten. Was hält euch "bei der Stange", warum tut Ihr immer noch, was Ihr tut, frage ich Murphy Davis und Ed Loring, die mit ihrer Tochter Hannah von Anfang an dabei sind. Ed gibt mir daraufhin folgende Antwort: "Wir haben uns diesen Weg letztlich nicht selbst ausgesucht, sondern wir folgten damit unserem Ruf in die Nachfolge Jesu." Eindringlich redet er weiter: "Wir speisen die Hungrigen, wir kleiden die Nackten, wir sorgen uns um die Bedrängten und bedrängen die Sorglosen (= we comfort the afflicted and afflict the comfortable) und sagen den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht - nicht, weil wir glauben, dass die Welt sich plötzlich zu Frieden und Mitgefühl bekehren wird. Nein, weil wir sterben werden, wenn wir nicht das tun, was wir glauben. Dann hat die Welt gewonnen, und wir haben unsere kostbarste Gabe verloren, unseren Glauben. Rabbi Heschel hat das einmal so ausgedrückt: ‚Wir tun all dies nicht, um die Regierung oder die Welt zu verändern. Wir tun es, damit die Welt uns nicht verändern möge.' "

Murphy fügt hinzu: "Das hat auch was mit Treue gegenüber unserer Aufgabe und den Menschen zu tun. Wir leben so, weil wir im Grunde gar nicht anders können. Es ist zu einem Teil von uns selbst geworden. Wir haben keine ‚Rückfahrkarte' mehr. Wir haben nichts mehr zu verlieren, und das ist gut so." Und was gibt euch nach so vielen Jahren immer noch die Kraft zum Weitermachen, frage ich weiter. Darauf wieder Murphy: "Sicherlich ist der Reichtum an Beziehungen, sei es mit den Menschen in den Gefängnissen, auf der Straße oder eben im großen Netzwerk der Friedens- und Gerechtigkeitsbewegung fast wie ein Lohn für die oft erschöpfende Arbeit. Und bei allen Rückschlägen ist es immer wieder wichtig, Erfolge, und seien sie noch so klein, zu feiern. Überhaupt feiern: Es gibt ja so viele Anlässe, um sich gemeinsam zu freuen, wenn du mit vielen Menschen zusammen lebst. Angefangen mit all den Geburtstagen, an denen es dann Torte gibt. Lecker! Natürlich ist es auch wichtig, sich Freiräume für sich und auch für die eigene Familie zu nehmen. Gerade wenn mensch dieses Leben langfristig führen will, ist es wichtig, sich über die eigenen Kräfte und Bedürfnisse bewusst zu werden. So war es zwar schmerzhaft, die Häufigkeit der Suppenküche und der Frühstücksausgabe so stark zu reduzieren (von ehemals täglicher Öffnung auf je zweimal wöchentlich), aber anders hätten wir überhaupt nicht mehr weitermachen können." Und Ed fügt hinzu: "Gleichzeitig ist es fundamental, dass wir uns immer wieder unserer Quellen vergewissern - sei es in Gottesdienst und Gebet, sei es durch die gemeinsame Reflexion über unsere Arbeit und unsere Weise zu leben. Zentral ist für mich die Feier des Gottesdienstes, das Teilen von Brot und Traubensaft als Zeichen der Versöhnung und der Gemeinschaft untereinander. Wir werden ja so oft schuldig aneinander. Ich denke, wer in Gemeinschaft lebt, weiß am besten, wie häufig sie oder er auf Vergebung angewiesen ist."

 

Und zurück nach Hamburg

Als ich einige Tage später nach Hamburg zurückkehre, klingt dieses Gespräch am deutlichsten in mir nach. Für unsere aktuelle Situation bei Brot & Rosen nehme ich vom Besuch bei der "älteren Schwester(-gemeinschaft)" einige Anregungen mit: Nach intensiven Aufbaujahren ist es wichtig für uns, uns wieder mehr Zeit für die Selbstvergewisserung auf unserem Weg zu nehmen. Das erscheint mir wesentlich, damit wir nicht aus dem Blick verlieren, warum wir tun, was wir tun, und auf welchem Grund unsere Arbeit gebaut ist. Gleichzeitig erlebe ich vor dem Hintergrund meiner eigenen wachsenden Familie die Notwendigkeit, mehr Raum für die Wahrnehmung der Bedürfnisse von Familie bzw. von Kindern im Rahmen unserer Dienstgemeinschaft zu schaffen. Und, damit dies nicht zum unlösbaren Widerspruch wird, dürfen wir uns, je nach Kräftehaushalt und Fähigkeiten, die Freiheit nehmen zu einem flexiblen und undogmatischen Umgang mit den Aufgaben und Diensten der Gemeinschaft. Es würde sich sicher lohnen, über diese Themen weiter nachzudenken - vielleicht mehr an anderer Stelle.



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