Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
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Widerspruch - abgelehnt

 

von Dietrich Gerstner / Juni 2006

In der Nacht vom 8. auf den 9.11.2004 nahmen Dietrich Gerstner und Viola Engels im Wendland an einer gewaltfreien Sitzblockade der Kampag­ne ‚X-tausendmal quer‘ gegen einen Atom­mülltransport ins Zwischenlager Gorleben teil. Am frühen Morgen des 9.11. wurden sie von der Polizei von der Stra­ße getragen, ihre Personalien aufge­nom­men und Anzeige gegen sie gestellt. Gegen den Bußgeldbescheid über 51,- € legten Dietrich und Viola Widerspruch ein. Am 19.4. und 8.5.2006 - also mehr als 1 ½ Jahre nach der Aktion - kam es in Lüneburg gegen die beiden vor dem Amtsgericht zum Prozess.

Im Folgenden drucken wir Dietrichs Begründung vor Amtsrichterin Dr. Dornblüth und Oberstaatsanwalt Warnicke in Auszügen ab:

„Ich stehe heute vor Ihnen als Vater von drei kleinen Kindern, um deren Zukunft ich mir Sorgen mache. Und ich stehe vor Ihnen als jemand, der schon lange zu den Fragen von Atomenergie und möglichen Alternativen dazu engagiert ist - sowohl durch Informationsveranstaltungen als auch durch Demos und gewaltfreie Aktionen gegen die Castor-Transporte. Und ich stehe vor ihnen als Kunde, der seinen Strom von einem Anbieter bezieht, der nur Energie aus regenerativen Quellen verkauft.

Ich möchte Ihnen hier mehrere Punkte vortragen, warum ich vehement gegen Atomkraft bin und mich darum in Langendorf auf die Straße gesetzt habe.

  1. In einer Woche begehen wir den 20. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl: Am 26.4.1986 explodierte dort der Atomreaktorblock Nr. 4 und setzte 300mal mehr an Radioaktivität frei als beim Atombombenabwurf über Hiroshima. Der UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte 2001: ‚Geschätzte 9 Millionen Menschen der drei Länder (Weißrussland, Westrussland und Ukraine) zählen zu den schwersten Opfern der Tschernobyl-Tragödie und dieses ist erst der Anfang. Dutzendtausende Menschen starben in den ersten Jahren nach der Explosion - darunter sehr viele der ‚Liquidatoren‘, die den Autrag hatten, den brennenden Reaktorkern wieder abzudichten und dabei enormen Strahlenbelastungen ausgesetzt waren, Menschen aus der direkten Region der Atomanlage bis hin zu Gegenden wie der Gomelregion in Weißrussland in ca. 400 km Entfernung, wo besonders viel Radioaktivität mit z.T. künstlich eingeleiteten Regenfällen zum Niederschlag kam. Abgesehen davon gibt es keine gesicherten Erkenntnisse über die Langzeitfolgen von Niedrigstrahlung (z.B. durch Erbschädigungen), die sich noch lange in den betroffenen Gebieten halten wird.

  2. Tschernobyl ist in der Geschichte der Atomindustrie kein Einzelfall: Der Unfall von Three Mile Island (Harrisburg, USA) im Jahre 1979, die permanente Vergiftung der irischen See vor der englischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield, eine rätselhafte Häufung von Leukämiefällen bei Kindern in der Geest um das deutsche AKW Krümmel / Geesthacht, unzählige kleinere und größere Störfälle auch in deutschen AKWs bis hin zu verschwundenen sicherheitsrelevanten Schlüsseln im AKW Phillipsburg (im März 2006) ... - auch hier in Deutschland können wir vor einem Super-GAU nicht sicher sein! Für solch einen Fall mit Schadenssummen in Billionenhöhe wären die Atomkonzerne vollkommen unterversichert, während sie gleichzeitig ihre Rückstellungen in Milliardenhöhe für diesen nicht zu wünschenden Eventualfall steuerfrei in andere Geschäfte investieren dürfen!

  3. Kommen wir zu den Transporten in den Castor-Behältern: Selbst die Polizei warnt davor, dass ihre BeamtInnen sich nur eine beschränkte Zeit in der Nähe dieser Transportbehälter aufhalten dürfen, da sie sonst zu viel Strahlung abbekommen würden. Darüber hinaus gibt es letztlich keine zuverlässigen Testergebnisse über ihre Stabilität - bei einem Unfall im Jahre 1997 wurden stattdessen Risse festgestellt.

    Und: Es handelt sich hier um Transportbehälter, in denen der hochstrahlende radioaktive Müll für die nächsten 40 Jahre oberirdisch in einer Leichtbauhalle im so genannten Zwischenlager Gorleben zur ersten Abkühlung gelagert wird. Diese Halle bietet nicht mehr Schutz als eine gewöhnliche Scheune!

  4. Damit wären wir beim nächsten Thema: Die „Scheune von Gorleben“ und selbst Atomkraftwerke sind vor gezielten Terrorangriffen nicht wirklich zu schützen. Ein zweites „Tschernobyl“ in dichter besiedeltem Gebiet wie hier um Hamburg herum hätte noch viel mehr Tote zur Folge als 1986! Dazu kommt stets die Gefahr des Diebstahls von atomarem Material, das für den Bau von Mini-Atombomben missbraucht werden könnte.

  5. Dann das ungelöste Problem des hochradioaktiven Atommülls: Es gibt in Deutschland nach wie vor keinen geeigneten Ort für die „Endlagerung“ von hochradioaktiven Abfällen. Nach Meinung vieler WissenschaftlerInnen ist der Salzstock von Gorleben dafür nicht geeignet. Alternativen sind noch keine in Sicht, und ihre Erkundung wird wiederum Milliarden an Steuergeldern verschlingen. Dabei benötigt die Atomindustrie für den Betrieb ihrer Anlagen den „Entsorungsnachweis“! Diesen verschafft sie sich aktuell durch die zunehmende Zwischenlagerung direkt an den AKW-Standorten sowie durch die Atommülltransporte in die WAA La Hague in Frankreich und zurück ins Zwischenlager nach Gorleben. Aber es gibt tatsächlich noch keine Lösung auf Dauer! Und das bei einem Stoff wie Plutonium, der eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren hat. Das übersteigt jede menschliche Vorstellung! Wer kann das denn wirklich verantworten?! Ich denke niemand!

    Alleine die aktuelle Zwischenlagerung in Gorleben beläuft sich auf 40 Jahre. Bis der aktuell dort angekommene Atommüll weiter verschoben werden soll, werde ich über 80 Jahre und meine kleinen Jungs älter als ich jetzt sein!

  6. Die aktuelle Krise um die Atomenergienutzung des Iran zeigt, dass dabei die zivile Nutzung nie sauber von der militärischen getrennt werden kann. Auch hier in Deutschland wird in Gronau eine Atomanreicherungsanlage betrieben, die waffenfähiges Uran herstellt, obwohl die BRD gar keine Atomwaffen besitzen darf. Bei der Atomenergie kann es keine zivile Nutzung geben ohne die Gefahr des militärischen Missbrauchs!

So weit zu den direkten, den lebensbedrohenden Gefahren, die von der Nutzung der Atomenergie ausgehen. Nun noch einige weitere Aspekte:

  1. Momentan droht eine Renaissance der Atomenergie in Europa und weltweit: Kürzlich wurde in Finnland seit Jahren zum 1. Mal in Westeuropa wieder ein AKW in Betrieb genommen, die USA und Frankreich planen neue Anlagen. Und die deutsche Atomindustrie rüttelt kräftig am „Atomkonsens“ über die vereinbarte Abschaltung der deutschen AKWs in den kommenden drei Jahrzehnten. Darüber hinaus beteiligt sie sich an Atom-Projekten in China und in anderen Ländern. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund steigender Öl- und Gaspreise und der Endlichkeit der fossilen Energieträger sowie mit der Begründung des immer spürbareren Klimawandels.

    Aber: Auch Uran ist ein endlicher Rohstoff, der je nach Berechnung nur noch für 50 bis 200 Jahre industrieller Nutzung ausreicht. Außerdem entstehen auch beim großflächigen Übertageabbau von Uran und dessen Transport sowie Weiterverarbeitung klimaschädliche CO2-Emissionen und werden in der teuren Atomtechnologie wertvolle finanzielle Mittel gebunden.

  2. Atomenergie kann bisher nur durch die Großindustrie und damit die monopolartigen Stromkonzerne produziert werden. Von daher haben sie wenig Interesse an dezentralen, kleinräumigen Energiegewinnungsformen aus Wind, Sonne, Wasser oder Biomasse. Außerdem behaupten sie, dass mit der Abschaltung der AKW's Arbeitsplätze verloren gehen würden. Das Gegenteil ist jedoch meines Erachtens der Fall: Durch viele kleine Energieanlagen lassen sich in der Fläche viel mehr Arbeitsplätze schaffen. Mittlerweile ist die ‚Öko-Industrie‘ richtiggehend zum Jobmotor in Deutschland geworden und der Sektor mit den meisten neu gewonnenen Arbeitsplätzen.

Ich halte die Atomkraftnutzung für ein unkontrollierbares Sicherheitsrisiko, für zu teuer, friedensgefährdend und für völlig ungeeignet zur Lösung der Klimaprobleme. Die Zukunft muss daher heißen: Ausbau der regenerativen Energien, Energieeinsparung, Verbesserung der Energieeffizienz und dezentrale Energieversorgung! Jeder Tag Atomenergienutzung ist ein Tag zuviel! Dafür übernehme ich politisch und als Kunde Verantwortung.

Und nun stehe ich vor Ihnen, vor Gericht, wegen eines Bußgeldbescheids über 51,- € und meines Widerspruchs dagegen. Es handelt sich hier um einen ungelösten Konflikt, der uns alle betrifft. Mir ist bewusst, dass wir mit der Polizei und den Gerichten nur einen Stellvertreterkonflikt austragen. Sie sind nicht der eigentliche Gegner für uns. Aber wir versuchen diesen Konflikt auf allen Ebenen auszutragen im Glauben, dass so, von unten her, gesellschaftliche Veränderungen herbei geführt werden können.

Ich halte mein Verhalten für legitim, auch wenn es in ihren Augen nicht legal ist - aber die Geschichte lehrt uns, dass auch Gesetze geändert werden können.

Wir wurden am 9.11. von der Polizei geräumt - ich werde meinen Kindern eines Tages nicht sagen können, ich hätte nichts gewusst. Darum muss ich handeln, und zwar konsequent gewaltfrei.

Hier vor Gericht beantrage ich einen Freispruch oder zumindest die Einstellung wegen Geringfügigkeit. Angesichts der lebensbedrohlichen Gefahren, die von der Atomindustrie und den Castor-Transporten ausgehen halte ich mein Sitzenbleiben auf der Straße für geringfügig. Ich danke Ihnen fürs Zuhören.“

 

Dietrich wurde wiederum zur Bezahlung eines Bußgeldes verurteilt - die Strafe wurde auf 100,- € plus Gerichtskosten erhöht. Ebenso erging es später Viola und vielen anderen Mitangeklagten.



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