Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg
Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit
Gastfreundschaft für Flüchtlinge
Leben in Gemeinschaft
Israel und Gaza

von Christoph Störmer und Dietrich Gerstner / Ostern 2024

Beim Kreuzweg für die Rechte der Geflüchteten an Karfreitag fand eine Station am Kriegsmahnmal St. Nikolai statt. Der inhaltliche Text der Station wurde von einer palästinensischen Frau gesprochen. Bei den Zuhörer*innen machte sich spürbare Unruhe breit und es gab Protestäußerungen. Diese setzten sich in verschiedenen E-Mails fort, die wir darauf erhielten. Hier der leicht gekürzte Schriftwechsel zwischen dem ehemaligen Hauptpastor an St. Petri, Christoph Störmer, und Dietrich Gerstner.

Lieber Dietrich, liebe Uta, liebe VeranstalterInnen!

Ihr wisst, dass ich seit vielen Jahren, auch während meiner aktiven Zeit an St. Petri bis 2015, fast immer dabei war auf diesem wichtigen, zeichenhaften Weg – zugleich öffentlichem Statement, Gebet, Gottesdienst, Gespräch und Prozession.

Ich schreibe, weil mich gestern die 2. Kreuzwegstation am Mahnmal St. Nikolai nachhaltig verstört hat, es also immer noch tut.

Sie stand unter dem Bibelwort „Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz“ und sollte thematisieren Krieg und verhinderte Flucht in Gaza.

Zunächst zum Ort: Wir wissen: das Mahnmal erinnert an „Gomorrha“, die massiven Luftangriffe der Alliier-ten im Juli 1943 gegen das national-sozialistische Hamburg.

Fast nur dieser Kirchturm – als Zielmarke der Alliierten – blieb von der Altstadt stehen. Ihn hat seit vielen Jahren die Stadt Hamburg (von der Kirche) übernommen als Mahnmal für den Frieden. Hier fanden zahlreiche Friedensgebete statt – auch mit dem britischen Kronprinzen und un-serer Bischöfin, als Zeichen gelebter Versöhnung.

Nach über zwei Jahren eines mörderischen Krieges, vor allem Luftkrieges, durch einen der damaligen Alliierten (ich weiß, am Hamburg-Bombardement war die damalige Sowjetunion nicht beteiligt), hätte ich mir gewünscht, auch diese völkerrechtswidrige Barbarei an diesem Ort zur Sprache zu bringen, die gezielte Bombardierung ukrainischer Infrastruktur, inklusive Staudämme, Krankenhäusern, Wohnblocks – und die Millionen Binnenflüchtlinge und die eine Million Flüchtlinge, die seitdem nach Deutschland kamen und von denen 10tausende in Hamburg leben oder lebten.

Dazu die russischen Deserteure und Asylsuchenden, die das Putin-Russland und die Rekrutierung zum Militär flohen.

Ihr habt euch entschieden, nur den einen Luftkrieg „vor unserer Haustür“ zu thematisieren, den seit 5 Monaten tobenden, der auf die Hamas zielt, aber unsäglich viele zivile Opfer fordert – ein viel zu hoher Preis, weshalb nicht nur die jüngste, verbindliche UN-Resolution einen sofortigen Waffenstillstand fordert, sondern seit langen auch die israelische Opposition.

Das Gedenken an die Opfer bezog sich gestern aber nur auf die palästinensischen Opfer, mehrfach wurde die Zahl 32.000 genannt, nicht aber auch die zuvor massakrierten 1.200 Opfer und die mehreren Hundert Entführten durch den Hamas-Überfall am 7. Oktober. Und auch nicht erwähnt wurde der damit verbundene Bombenteppich der Hamas auf Israel.

Ich war während der Rede in ein längeres Gespräch mit einer Vertreterin der PalästinenserInnen geraten – ein gutes, differenziertes Gespräch am Rande des Platzes, nachdem mich vorher ein junger Mann rüpelhaft zur Seite geschubst hatte – insofern sind mir Teile der Rede entgangen.

Doch ich bekam mit, lieber Dietrich, dass du am Schluss die Parole "Free Palastine from the river to the sea“ verteidigt hast als nicht antisemitisch, sie gelte auch für Israel – oder so ähnlich. Du weißt aber genau, wie wir alle, dass die Hamas in ihrem „Verfassungsgericht“-Dokument die Auslöschung Israels fordert – wie es umgekehrt inzwischen viele jüdische Siedler der extremen, religiösen Rechten auch tun, schrecklich.

Und lieber, Dietrich, jetzt meine ich das wirklich ernst: Du hast dich als Moderator und Liturg des Kreuzwegs zur Partei einer Seite gemacht, ganz augenfällig mit dem Tragen des Palästinenser-Tuchs.

Das Schwenken palästinensischer Flaggen fand ich in diesem Kontext ebenfalls höchst befremdlich.

Es muss uns als Christenmenschen um einen radikalen Hu-manismus gehen, wie ihn Omri Boehm vertritt! Boehm fordert nicht eine Zweistaatenlösung, sondern eine „Haifa-Republik“, eine Föderation aller dort lebenden Menschen. Klingt völlig utopisch (wie die Feindesliebe als Gebot Jesu), zeigt aber einen Weg, aus dem Kreislauf der Rache auszusteigen.

Wenn ich gewusst hätte um die palästinensischen Flaggen, hätte ich mir zwei vorher besorgt: eine palästinensische und eine israelische, miteinander verwoben oder verbunden.

In diesem Geiste (Boehms und der Bergpredigt) hätte ich mir die Kreuzwegstation gewünscht und – auch das wäre doch möglich gewesen und ein großes Zeichen –, dass zunächst ein Palästinenser auftritt und das unsägliche Massaker der Hamas beklagt und dessen Instrumentalisierung des Islam und Terrorisierung der eigenen Bevölkerung und die Freilassung der Geiseln fordert (diese PalästinenserInnen gibt es, in Deutschland dürfen sie frei sprechen, sie stehen aber teilweise unter Personenschutz), und dann eine Israelin, die entsprechend die palästinensischen Opfer beklagt und das Vor-gehen der israelischen Politik und Armee verurteilt. Es gibt Freundschaften zwischen PalästinenserInnen und Israelis – diese zu zeigen wäre dem Ort des Mahnmals gerecht geworden.

Lieber Dietrich, gerade weil ich eure Arbeit so wichtig finde und wirklich bewundere, dass Ihr beide inzwischen über 20 Jahre in einer großen WG mit Geflüchteten lebt, ihr Leben teilt und Ihr so viel Gutes bewirkt und in die Wege geleitet habt, kommt diese Kritik jetzt so deutlich und dezidiert und hoffentlich verständlich.

Liebe Grüße an alle – an diesem unsäglichen, nicht enden wollenden Karsamstag unserer Weltzeit. In der kommenden Nacht feiern wir, ungläubig-gläubig, dass dieser Karsamstag endet. „Freunde, dass der Mandelzweig …“ dichtete Schalom Ben-Chorin 1943... In diesem Sinne: Immer wieder auf-stehen, rausgehen – ich wünsche euch allen gesegnete Ostertage!

Christoph

Ostersonntag 2024

Lieber Christoph,
zunächst mal am Ostersonntagmorgen: Frohe Ostern, Christus ist auferstanden aus dem Tod und gegen alle (gewaltsamen) Tode!

Danke, Christoph, für Deine ausführliche, differenzierte und im Ton solidarische Mail. Du erlaubst, dass ich Dir auch ausführlich antworte, auch wenn ich nicht erwarte, dass ich dich überzeugen werde. Aber zu einigen Deiner Anfragen möchte ich mich verhalten.

Gestern lag den ganzen Tag Sahara-Staub in der Luft, was den Himmel leicht eintrübte am "Tag danach". Vielleicht ein passendes Bild für den Staub, der an Karfreitag an der Station "Krieg in Gaza und verhinderte Flucht" mit der palästinensischen Gruppe aufgewirbelt wurde.

Nicht nur Du, sondern noch einige weitere z.T. langjährige Freund*innen und Mitgänger*innen beim Kreuzweg hatten große Schwierigkeiten mit der Einseitigkeit der Darstellung, und andere wiederum, die auch schon lange oder auch kürzer dabei sind, dankten explizit für den Raum, den wir den palästinensischen Menschen in ihrem Schmerz geboten hatten.

Die Gestaltung des Kreuzwegs geschieht von Jahr zu Jahr neu. Wir verabreden in der Vorbereitungsgruppe die Kreuzweg-Themen und koordinieren die Anfragen bei verschiedenen Gruppen, und dann basiert vieles auf Vertrauen.

Unsere Kreuzweg-Stationen sind in der Regel einseitig, parteilich, eventuell auch kontrovers.

Aber bei Israel-Palästina gibt es in Deutschland schon besondere Befindlichkeiten, die am Ende mehr mit unserer eigenen Geschichte zu tun haben als mit allem, was irgendwelche palästinensischen Menschen hier sagen. Sie sprechen aus Ihrer persönlichen Betroffenheit und der Position der Machtlosigkeit, Trauer und Frustration über das laute Schweigen des Westens angesichts des massenhaften Todes in Gaza und der immer brutaleren Vertreibungspolitik der Siedler*innen im Westjordanland mit Billigung der israelischen Regierung. Und meines Erachtens wäre es auch eine Möglichkeit, sich diese Worte einfach anzuhören als persönliche Statements und zu denken "Ich sehe das anders". Es besteht m.E. keine Notwendigkeit, sich dann "vereinnahmt" zu fühlen, wenn etwas gesprochen wird, mit dem ich nicht einverstanden bin.

Im Nachhinein bin ich natürlich klüger, und so hätte ich am Anfang der Station etwas zur Einordnung und Auswahl des Themas sowie auch zum Ort und den dort befindlichen Aufstellern zum Krieg in der Ukraine sagen können und sollen.

Denn einerseits war ich mir nach dem Wirbel um den Weltgebetstag (der Frauen) zu Palästina am 1. März der Brisanz der Thematik bewusst, andererseits wollte ich die betreffende Kontaktperson und ihre Gruppe nicht bevormunden. Die Texte lassen wir uns in der Regel nicht vorher zum Lesen und eventuellen Zensieren geben und so ist es immer ein gewisses Risiko, das wir mit der Durchführung eingehen.

Sicher hätte ich mir, ja wir alle Mitgestaltenden, mehr Ausgewogenheit gewünscht, eine explizite Erwähnung des Hamas-Massakers an den jüdischen Opfern, eine Distanzierung von der Hamas o.ä.

Aber ich habe verstehen gelernt, dass diese Ausgewogenheit mir deshalb leichter fällt, da ich nicht direkt betroffen bin und unter der aktuellen Gewalt in Gaza und in der Westbank nicht leiden muss bzw. keine Familienangehörigen oder Freund*innen dort habe. Aus ihrer akuten Betroffenheit heraus sind die meisten palästinensischen Menschen, die ich kennengelernt habe, nicht in der Lage, diese von uns gewünschte (bzw. erwartete?!) Ausgewogenheit auszudrücken.

Darum ist es natürlich schade, dass es uns nicht gelungen ist, eine zusätzliche israelisch-jüdische Stimme zu Gehör zu bringen – das lege ich auch mir selbst z.T. zur Last, da wir im Rahmen der Veranstaltungen mit dem binationalen Team der Combatants for Peace mit israelischen Menschen in Kontakt gekommen sind. Leider hatte es nicht geklappt, solch eine Person am Kreuzweg zu beteiligen. Dennoch haben wir mit dem Gebet von Thea Martin und meiner kurzen Abmoderation versucht, ein wenig die Balance wieder herzustellen.

Und, ja, ich finde es schwer erträglich, wenn im deutschen Diskurs ohne zu zögern ein Slogan wie "From the river to the sea Palestine will be free", also ein Ruf nach Freiheit, einfach als antisemitisch gebrandmarkt. Dieser Ruf ist auch nicht aus dem Hamas-Gründungsdokument, sondern steht schlicht und ergreifend für die Sehnsucht nach Freiheit und Gleichberechtigung der Palästinenser*innen – sei es in der Westbank, in Gaza oder auch in Israel. Das ist nicht Hamas, da geht es nicht um "Israel ins Meer treiben" o.ä. (vgl. die englisch- und deutschsprachigen Wikipedia-Einträge). Das ist, als ob ich im Ausland als Deutscher direkt mit Adolf Hitler bzw. Nazis gleichgesetzt werde.

Das gleiche gilt für die Palästina-Flagge, die natürlich einerseits nichts bei einem Kreuzweg verloren hat, sie ist ein nationales Symbol, und als christlicher Anarchist weiß ich, dass vom Nationalismus viel Unheil kommt. Und doch respektiere ich als Mensch mit der Möglichkeit, meine demokratischen Grundrechte i.d.R. ausüben zu können, die Sehnsucht von palästinensischen Menschen nach ihrer eigenen Fahne. In Palästina wurden Menschen bis 1993 regelmäßig für das Zeigen der Fahne ins Gefängnis gesteckt und sie sind darum besonders stolz auf ihre Fahne. Und auch hier: Diese Fahne steht damit und bei diesen Menschen sicher nicht für das Massaker der Hamas, sondern soll ihre palästinensische Identität sichtbar machen.

Und zu guter Letzt: Ja, ich trage die Kufiya, das Palästinenser-Tuch schon seit längerem und nicht erst für den Kreuzweg. Dies in der Tat als sichtbares Zeichen der Verbundenheit und Solidarität auch mit unseren (christlichen) Glaubensgeschwistern in Palästina und mit den übrigen auch. Glücklicherweise kenne ich auch israelische Menschen, die es tragen – und die bekommen noch viel mehr Kritik und Prügel als ich. Denn zur Wahrheit gehört auch: Lange Zeit nach dem 7. Oktober 2023 war die Berichterstattung in den öffentlichen Medien m.E. in umgekehrter Weise einseitig, so dass wenig vom Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im baldigen Anschluss an das grausige Massaker in Israel zu hören, sehen oder lesen war. Jede Solidaritätsbezeugung mit Palästina bzw. den palästinensischen Menschen wurde unter den Generalverdacht des Antisemitismus und der Israel-Feindschaft gestellt. Demos, die auf das Leid im Gaza aufmerksam machen wollten oder das Zeigen der palästinensischen Flagge oder des traditionellen Tuches wurden z.B. in Berlin unter Strafe gestellt.

Das Selbstverteidigungsrecht Israels wurde nicht mal im Ansatz in Frage gestellt, selbst als es schon weit über 10.000 Tote, die meisten Zivilist*innen und darunter wiederum viele Kinder und Frauen, gegeben hatte (Red.: Stand Sommer sind es mind. 45.000 Tote in Gaza). Die "einzige Demokratie im Nahen Osten" und die "moralischste Armee der Welt" hat offenbar einen Freibrief erhalten, die Hamas zu vernichten, koste es was es wolle. Natürlich hat die Hamas auf menschenverachtende Weise diese Reaktion einkalkuliert. Aber MUSS eine Demokratie so handeln, wie eine Terrororganisation das vorgibt? Ist das "alternativlos" oder schlicht kriegsverbrecherisch und am Ende wohl auch selbstzerstörerisch?!

Dieser einseitige öffentliche Blick hat sich mittlerweile zum Glück geweitet und darum leite ich Dir den Link zu einer NDR-Info-Sendung vom Vorabend des Kreuzwegs weiter ("Die Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland“), die beispielhaft beleuchtet, woher der Frust, die Wut und vielleicht auch der Mangel an Empathie für israelisches Leid auf palästinensischer Seite kommen könnte.

So, genug der langen Worte am Ostersonntag. Wichtiger ist es ja, dass wir Wege finden, israelisch-palästinensische Friedensinitiativen zu stärken, damit die Spirale der Gewalt endlich durchbrochen werden möge. Denn: Christus ist auferstanden aus dem Tode und gegen den Tod, mögen die Gewalttäter*innen auf Erden dieser Friedensbotschaft endlich folgen!

Trotz allem noch gesegnete Feiertage, Schalom & Salaam, Dein Dietrich



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