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Anja Reschke (M.) bei der Helmut Frenz-Preisverleihung 2018 mit den anderen Nominierten.

von Anja Reschke/ November 2018

Am 18. November sprach die bekannte NDR-Journalistin Anja Reschke beim Gedenkgottesdienst für die Toten auf der Flucht ein Mutmach-Grußwort. Wir geben es hier in voller Länge wieder.

Liebe Gemeinde, ich habe den schönsten Part dieses Abends bekommen. Mein Auftrag ist: Ein Mutmach Grußwort.

Etwas Positives also, in die Zukunft Leuchtendes. Als ich anfing mir Gedanken zu machen, stellte ich schnell fest, dass das – vor allem als Journalistin – gar nicht so einfach fällt. Ich bin konditioniert darauf, auf die Missstände in der Welt zu schauen, auf das, was schief läuft, auf das, was ungehörig ist, auf das, was verletzt. Wir von den Medien zitieren und beobachten sie, die Hetzer und Schimpfenden. Wir selbst werden angegriffen, wenn wir Partei für die Menschlichkeit ergreifen. Wir beschäftigen uns viel mit dieser Empörung und verstärken sie dadurch hundertfach. Aber etwas Positives? Berichten wir selten. Dabei gibt es das. Tausendfach. Und trotzdem wendet sich unser Blick erstmal dem Negativen zu. Eine Hirnforscherin erklärte mir neulich, dass wir dafür nichts können. Unser Gehirn ist darauf trainiert, Angst und Bedrohung stärker wahrzunehmen. Das ist bei allen Lebewesen so. Das ist sogar wichtig, denn es hilft uns, Gefahr zu erkennen. Es ist sozusagen Überlebensstrategie. Aber da ist noch etwas anderes in uns. Im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen sind wir Menschen nämlich in der Lage, Mitgefühl zu empfinden, empathisch zu sein. Wir können Leid bei anderen erkennen, es sogar versuchen zu lindern. Das macht uns Menschen zu Menschen. Ich möchte also Ihren Blick auf diesen Teil in uns richten. Diesen Teil, der genauso da ist in der Gesellschaft. Und auch wenn er gerade übertönt wird vom Getöse der Empörten, er ist nicht verschwunden.

Ich möchte, dass Sie sich noch einmal an das Jahr 2015 erinnern. Diesen besonderen Sommer und Herbst. Als – für viele völlig unvorbereitet – so viele Menschen nach Deutschland kamen. Menschen, die aus Not, aus Krieg, aus Terror, aus Verzweiflung, ja manchmal auch nur aus Hoffnung auf ein besseres Leben zu uns kamen.

Deutschland traf das weitestgehend unvorbereitet. Ausgerechnet Deutschland, das Land der Bürokratie, der Verordnungen, der klaren Organisationsstrukturen, der geordneten Verhältnisse, in dem doch eigentlich der Staat für alles zuständig ist, wurde von dieser Situation vollkommen überrascht.

Und dann geschah etwas Außergewöhnliches: Tausende ganz normaler Bürger standen auf aus ihren Sesseln, ihren Liegestühlen. Sie suchten Kleidung in ihren Schränken zusammen, Babybetten, Spielzeug, Fahrräder, brachten sie zu Erstaufnahmeeinrichtungen. Sie boten Hilfe an, manche nahmen sich extra Urlaub, um Flüchtlinge zu begleiten. Sie organisierten selbstständig riesige Kleiderkammern, mit einer Logistik, die jedem großen Konzern zur Ehre reichen würde. Sie gründeten Initiativen und Vereine, boten Sport- und Nähkurse an, Spiele für Jugendliche oder Ausflüge in die Nachbarschaft.

Deutschland war aufgewacht. Die Menschlichkeit war aufgewacht. Ich möchte Sie daran erinnern, wie stark das war. Denn das haben wir ein paar Jahre nicht getan. Im Gegenteil, all diejenigen, die aufgestanden waren, die menschlich waren, wurden verlacht und verhöhnt. Als naive Gutmenschen abgetan, als Bahnhofsklatscher und Willkommens-Urseln. Das war nicht recht. Das war armselig. Denn Menschlichkeit ist nicht naiv und nicht dumm, sondern das Beste, was wir hervorbringen können.

Meine Freundin Stefanie nahm sich auch einer Familie an. Der Familie Alyouseff aus Aleppo. Sie lernte sie kennen, bei einem Welcome-Dinner. Der Vater Mitte 50, ein Ingenieur, zwei Töchter, Dana und Sofia, 20 und 19 Jahre alt, zwei Söhne Rais und Mohammed, 17 und 18. Es waren Dana und Sofia, die ihren Vater überredet hatten, zu gehen. Als Bomben in Aleppo einschlugen, die Umayyaden Moschee zerstörten, den Bazar, die Zitadelle, alles UNESCO-Weltkulturerbe. Rais studierte an der Universität, als auch dort Bomben detonierten, 82 Menschen tot.

Papa, wir müssen weg, jetzt ist die Chance, die Grenzen sind offen, wir müssen gehen.“ Der Vater wollte bleiben. Seine Heimat nicht verlassen. Das wird schon wieder. Und überhaupt, seine Frau und die kleine Tochter. Sie war doch erst fünf. Was sollte werden? Aber Dana und Sofia drängten. Also zog der Vater los, mit vier seiner Kinder. Seine Frau blieb. Mit der kleinen Tochter und der 14 Jährigen, die sich nicht von ihrer Mutter trennen wollte. Wenn man die anstrengende, gefährliche Flucht geschafft hätte, würde man sie sofort nachholen, war die Verabredung. Mit dem Flugzeug, nicht mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer.

Immer wieder, wenn es schwierig wurde auf der Flucht, auf der „klassischen“ Route 2015 übers Meer und durch den Balkan, immer wenn man nicht weiterkam, sagte der Vater: Ich gehe zurück. Aber Dana und Sofia ließen ihn nicht.

So kamen sie an in Deutschland im Spätherbst 2015 und trafen meine Freundin. Stefanie lud sie ein zum Essen, immer wieder, versorgte sie mit allem, was eine Familie braucht. Sie besorgte den Mädchen Praktikumsplätze und half bei den dutzenden Formularen. Die Jungs meldeten sich an im Deutschkurs. Zwei fleißige Schüler, sie schlossen ab mit Bestnote. Deutsch auf Universitätsniveau. Die Mädchen arbeiteten in Architekturbüros, als technische Zeichnerinnen, die Jungs bewarben sich um Studienplätze. Das Leben geht eben weiter, die Kinder fingen an, sich einzurichten.

Nur der Vater tat sich schwer. Die deutsche Regierung hatte den Familiennachzug ausgesetzt. Wie sollte er glücklich sein, in einem fremden Land mit fremder Sprache, ohne seine Frau und zwei seiner Töchter. Die waren mittlerweile auch geflohen. In die Türkei. Aber von da ging es nicht weiter. Es gab ja dieses Abkommen. Die Familie auseinandergerissen, auf unbestimmte Zeit. Man telefonierte täglich. Die Kleine wurde sechs, dann sieben, dann acht Jahre alt. Die Größere entwickelte sich vom Teenager in eine erwachsene Frau. Videoanrufe per Skype halfen, aber sie konnten das Vermissen nicht heilen. Stefanie half bei der Wohnungssuche und besorgte Karten für die Elbphilharmonie. Dieses teure, aber wunderschöne Bauwerk. Sie hörten Musik von Bach. Das ist Deutschland. Die Kinder, mittlerweile junge Erwachsene, sind angekommen. Rais studiert Ingenieurswesen, Sophie Städteplanung in Hamburg, Mohammed ist nach Aachen gegangen. Er hat einen Studienplatz in Informatik. Aber der Vater blieb traurig. Drei Jahre lang. Und drei Jahre sind lang.

So, und weil die Geschichte so frisch ist und mich immer noch so rührt und weil es um Hoffnung und Mut machen geht, erzähle ich sie Ihnen weiter. Denn just gestern nämlich, 12 Uhr 25, landete in Hamburg-Fuhlsbüttel eine Maschine aus Izmir. An Bord die Mutter mit den anderen beiden Töchtern. Mittlerweile acht und 18 Jahre. Meine Freundin und ihr Mann fuhren mit zum Flughafen, zwei Autos, so eine große Familie. Auf der Hinfahrt wurde noch gescherzt: Es wird nicht geweint und nicht geschrieen am Flughafen ermahnte Mohammed seine Schwestern. Was sollen denn die anderen denken? Vergeblich.

Stefanie erzählte mir heute morgen, abgesehen von der Geburt ihrer eigenen Kinder hätte sie nichts in ihrem Leben so ergriffen wie der Moment, als sich die Tür am Sicherheitsbereich öffnete und die Mutter nach drei Jahren ihren Mann und ihre vier Kinder wieder in die Arme schließen konnte. Ich musste sogar weinen, obwohl ich nicht mal dabei war.

Mitgefühl, das ist was uns Menschen zum Menschen macht. Und dieses Mitgefühl schien irgendwie aus der Mode gekommen zu sein. Wir haben in diesem Jahr viele schlimme Worte gehört, von Bürgern, aber auch von Politikern. Die sich gegenseitig übertroffen haben in der harten Wortwahl, im einzigen Bestreben, Menschen möglichst abzuhalten oder abzuschieben. Wir haben erleben müssen, dass freiwillige Seenotretter festgesetzt und angeklagt werden. Dass öffentlich diskutiert wurde, ob man diese Rettung nicht vielleicht besser lassen solle. Wir beklagen heute die vielen Toten, die sterben mussten, auch aufgrund von mangelnder Menschlichkeit.

Aber da war auch noch etwas anderes in diesem Jahr. Das Mitgefühl hat sich wieder gezeigt. Menschen sind auf die Straße gegangen. Menschen, die gesagt haben, so, jetzt reicht’s. So geht man nicht miteinander um. In München etwa, im Juli, als bei strömendem Regen, wirklich wie aus Gießkannen, zehntausende gegen die CSU demonstriert haben. „Ausgehetzt“. Viele haben mir erzählt, ältere Herrschaften, dass sie überhaupt zum allerersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration waren. Also, alles was recht ist, aber diese Politik, dieser Ton, das ginge jetzt zu weit. Oder hier in Hamburg, oder zuletzt in Berlin – mit 40.000 Menschen hatten die Organisatoren der #unteilbar Demonstration für eine offene und freie Gesellschaft gerechnet. Es kamen 250.000.

Und wie Pastorin Sierts erzählte, hat auch der Schweigemarsch durch die Innenstadt gestern viel Aufmerksamkeit erregt. Obwohl es keine große Gruppe war und obwohl oder vielleicht auch weil sie gar nicht laut war.

Niemand hat gesagt, dass es einfach werden würde. Mitgefühl und Nächstenliebe zu zeigen erfordert Mut. Weil man seine eigene Angst überwinden muss, im Gehirn ringen da die beiden Teile miteinander, weil man sich einsetzen muss und weil einem dafür mitunter Häme und Wut entgegenschlägt. Ob wir auf die dunkle oder helle Seite blicken, ob wir der Angst oder dem Mitgefühl mehr Raum geben wollen, liegt nur und ganz alleine an uns.

Aber – wenn ich mir meine Freundin Stefanie vor Augen führe – der das jetzt peinlich wäre, so herausgestellt zu werden, weil sie sagt, sie habe doch gar nichts gemacht. Dann sage ich, doch: Sie hat ihr Herz geöffnet. Und dafür einen der rührendsten Momente in ihrem Leben bekommen. Und wenn ich weiß, wie viele Steffis, männlich und weiblich übrigens – es in Deutschland gibt – denken Sie an 2015 – wenn ich also die vielen Menschen vor mir sehe, die sich trauen, ihre Herzen weit zu machen. Dann macht mir das Mut. cool.



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