Diakonische Basisgemeinschaft in Hamburg |
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Passbesitzer*innen, Träger*innen von Bürgerrechten und Zufluchtsuchende
von Nora Ziegler / Dezember 2019 Nora Ziegler ist eine Friedensaktivistin, Autorin und Mitglied der Catholic Worker-Gemeinschaft in London. Dieser Artikel erschien in ihrem Rundbrief im Frühjahr 2017 und wird hier von uns in Übersetzung nachgedruckt, da Nora auf spannende Weise mit grundsätzlichen Gedanken eine Beziehung herstellt zwischen der Entstehung der Menschenrechte und der totalen Entrechtung von Geflüchteten heute. Passend zur weihnachtlichen Geschichte der Menschwerdung Gottes im Stall von Bethlehem plädiert sie für eine Haltung der Annahme unserer Verletzlichkeit als Menschen. Als ich letztes Jahr zu Weihnachten nach Deutschland heimfuhr, spazierte ich in eine kleine sozialistische Buchhandlung und stolperte über einen Prosadialog von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1940 mit dem Titel „Flüchtlingsgespräche“. Ich war erstaunt, wie zeitgemäß sich der erfundene humorvolle Austausch zwischen zwei deutschen Flüchtlingen, einem zynischen Intellektuellen und einem marxistischen Arbeiter, für die politische Krise liest, die wir gerade in Europa erleben. Der Dialog beginnt mit dem folgenden Abschnitt: Während ich las, stellte ich mir vor, wie Brechts Dialog zwischen den Männern in unserem Haus der Gastfreundschaft stattfinden würde, Männern aus dem Sudan, Irak, Eritrea, Äthiopien oder Algerien, die am Tisch sitzen und über den Brexit sprechen, während im Fernsehen ein BBC-Reporter über Trump's neuesten Tweet berichtet. Die weltweit wachsende Zahl von Flüchtlingen, die weit verbreitete nationalistische und rassistische Rhetorik, die Angst vor Rechtspopulismus und Extremismus sowie die immer feindseliger werdende Behandlung von Geflüchteten und Migrant*innen in ganz Europa lassen schmerzhaft an ein anderes dunkles Kapitel der europäischen Geschichte denken, das nur wenige Generationen zurückliegt. In Zeiten wie diesen ist es wichtig, zurückzublicken und sich nicht nur an die Brutalität und Gleichgültigkeit zu erinnern, zu denen unsere Gesellschaften fähig sind, sondern auch an die Menschen, die sich widersetzten, flohen, überlebten und die den Zusammenbruch der Demokratie, die Kriege und die Flüchtlingskrise Anfang des 20. Jahrhunderts analysierten und darüber nachdachten. Derzeit schätzt das UNHCR, dass es weltweit 65 Millionen Vertriebene gibt, von denen 21 Millionen Flüchtlinge in an-deren Ländern sind (für 2019/20 wird von über 70 Mio. Vertriebenen ausgegangen, die Red.). Die Rede von einer "Flüchtlingskrise" in Europa begann im Jahr 2015, als die Internationale Organisation für Migration (IOM) über 1 Million undokumentierte Menschen zählte, die auf dem Seeweg nach Europa kamen, und 3.771, die auf der Flucht gestorben waren. Eine Frage, die sich in den letzten Jahren immer wieder gestellt hat, ist: "Warum sind sie hier?" bzw. "Warum wollen sie hierher kommen?". Die zu Grunde liegende Haltung ist, dass diese Männer, Frauen und Kinder kein Recht darauf haben, hier zu sein, und dass die europäischen Gesellschaften deshalb keine Verantwortung haben, sie willkommen zu heißen, zu retten, zu schützen oder sie anzuerkennen. In unserer Zeit hat diese Haltung einen deutlich rassistischen Beigeschmack. Uns wird gesagt, dass unsere kulturellen und politischen Werte vom Islam angegriffen werden und dass die Tausenden junger Männer aus Afghanistan, Sudan und Eritrea "Wirtschaftsflüchtlinge" sind, die nach einem besseren Lebensstandard in Europa suchen. Bei unserer monatlichen Mahnwache vor dem Außenministerium, wo wir uns an die auf ihrer Reise nach Europa gestorbenen Flüchtlinge erinnern und für sie beten, hielt uns ein Mann entgegen, dass Großbritannien keine Verantwortung für die Schaffung sicherer Einreisemöglichkeiten habe, weil „wir sie nicht in die Boote gesetzt haben“. Eine ähnliche Situation bestand Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als Millionen von Europäer*innen ausgebürgert und vertrieben wurden oder vor totalitären Regimen flohen und staatenlos wurden. Laut Malcolm J. Proudfoot wurden rund 60 Millionen Europäer*innen durch den Zweiten Weltkrieg zu Flüchtlingen. In „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“, 19511 erstmals auf englisch veröffentlicht, argumentiert Hannah Arendt, dass diese staatenlosen Europäer*innen mit dem Verlust ihrer Staatsangehörigkeit und ihrer Bürgerrechte auch ihre Menschenrechte und ihren Status als Menschen verloren haben. Sie schreibt: "Die Vorstellung von Menschenrechten, die darauf beruhen, dass Menschen als solche existieren, brach in dem Moment zusammen, als diejenigen, die ihren Glauben daran bekannten, zum ersten Mal mit Menschen konfrontiert wurden, die tatsächlich alle anderen Eigenschaften und spezifischen Beziehungen verloren hatten – außer dass sie noch Menschen waren. Die Welt fand nichts Heiliges in der abstrakten Nacktheit des Menschseins.“ Arendt argumentiert, dass die Idee der Menschenrechte und der "Mensch" als politische Kategorie gemeinsam mit dem souveränen Nationalstaat entstanden sind, der die "Menschenrechte" seiner Staatsbürger*innen definiert und schützt. Der Nationalstaat gründet darauf, sich gegen andere ausgeschlossene Nationalitäten und Identitäten zu definieren. Mit dem Aufstieg der Nationalstaaten und der Menschenrechte entstand daher auch der „Staatenlose“, der seiner Rechte und Würde, als Mensch anerkannt zu werden, beraubt wurde. Paradoxerweise basieren die Menschenrechte genauso auf den Prinzipien der Gleichheit und Universalität wie auf der bloßen Tatsache, als Mensch zu existieren – ein Zustand, der Ungleichheit und Vielfalt einschließt. Nach Ansicht des Philosophen Giorgio Agamben2 ist die bloße Tatsache des Seins, das "nackte Leben", in den modernen souveränen Staat in der Form einer nationalen Staatsbürgerschaft fest eingeschrieben. So steht es (das Menschsein) nicht mehr am Rande der gesellschaftlichen Strukturen, sondern wird zu ihrem unsichtbaren Fundament. Der Mensch wird als Träger*in von Bürgerrechten und als Passbesitzer*in Teil des Staates, wird aber damit auch der Macht des Staates unterworfen. Arendt meint, dass dies die Grundlage für die totalitäre Macht war: die Fähigkeit souveräner Staaten, ganze Teile ihrer Bevölkerung auszubürgern, zu entrechten und in den "Abschaum der Erde" zu verwandeln. Der "Abschaum der Erde" sind Menschen, die auf ihr Menschsein, auf ihre bloße Existenz reduziert sind; sie sind aller Eigenschaften beraubt, die es ihnen ermöglichen würden, anerkannt zu werden und sich selbst als gleichwertige Menschen anzuerkennen. Das ist heute die Situation der undokumentierten Migrant*innen in Europa, der Menschen, die im ‚Dschungel‘-Lager von Calais lebten, und vieler Menschen, die in Großbritannien ohne Anspruch auf öffentliche Unterstützung leben. Die Rolle des Rassismus ist hier natürlich auch insofern von grundlegender Bedeutung, als Flüchtlingen aus Eritrea, dem Sudan oder Afghanistan im Gegensatz zu den meisten staatenlosen Europäer*innen des frühen 20. Jahrhunderts bereits zuvor eine Art von ‚Staatsbürgerschaft‘ aberkannt wird: der Status des "Weiß-Seins". Arendt stellt einen interessanten Zusammenhang zwischen schwarzen Amerikaner*innen und Staatenlosen her. Sie schreibt, dass eine Schwarze Person, die als "schwarz" und als nichts anderes gilt, die Würde verliert, ein freier und gleichberechtigter Mensch zu sein, weil alle ihre Handlungen ihrer ethnischen Zugehörigkeit („Rasse“) zugeschrieben werden. Ebenso verliert eine Person, die als "Mensch" und nichts anderes angesehen wird, nachdem sie alle Formen der Staatsbürgerschaft verloren hat, die gleiche Würde, weil alle ihre Handlungen darauf zurückzuführen sind, dass sie ein bloßes Menschentier ist. Die Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen hat daher neben der rassistischen eine weitere Komponente. Es ist die Weigerung, die Suche nach Zuflucht als politische und soziale Aktion anzuerkennen. Stattdessen wird die Flucht als bedauernswerter "natürlicher" Zustand betrachtet und die Zufluchtssuchenden werden damit von der "zivilisierten" Welt ausgeschlossen. Die Frage, wie wir dem Rassismus und der Entrechtung von Migrant*innen und Geflüchteten entgegenwirken können, kann jetzt auf diese Weise gestellt werden: Wie können wir die Macht des souveränen Staates über das bloße Leben, über uns als bloße Menschen in all unserer Unzulänglichkeit, Ungleichheit und Vielfalt ablehnen oder untergraben? Eine interessante Form des Widerstands ist in dieser Hinsicht der Hungerstreik. In den letzten Jahren haben verschiedene Gruppen von Geflüchteten mit Hilfe von Hungerstreiks die Anerkennung durch europäische Regierungen gefordert. Der Hungerstreikende, der sich weigert, als bloßer Mensch zu handeln, der essen muss, und der stattdessen fordert, als politischer Akteur anerkannt zu werden, nutzt und verwandelt die Macht des Herrschers über sich selbst. Dieser Akt könnte als verzweifeltes Glücksspiel verstanden werden, aber auch als Weigerung, sich von der Angst vor der Verletzlichkeit, durch die wir regiert werden, leiten zu lassen. Hier sehe ich Hoffnung auf Widerstand: eine Politik der Verletzlichkeit. Es ist eine Sache, Barmherzigkeit für Andere zu haben und zu lernen, die Verletzlichkeit anderer Men-schen zu akzeptieren und wertzuschätzen. Es ist noch schwieriger, sich mit Blick auf die Barmherzigkeit Anderer verletzlich zu machen. Wo immer wir auf unseren Rechten bestehen, beanspruchen wir in Wirklichkeit einen politischen Status, und wenn wir dies als Waffe nutzen, wird es immer Einige ausschließen. Sich von der Barmherzigkeit der Nächsten abhängig zu machen, das ist die Entscheidung eines Menschen, der weiß, dass er nur ein Mensch ist, eine bloße Existenz, so wie jede andere Person, unabhängig von ihrer Nationalität, ethnischen Herkunft, ihrer Papiere oder einer anderen sozialen Identität. Diese Entscheidung macht die Würde des ungleichen, einzigartigen Menschen aus. Als Christin glaube ich, dass unsere "bloße Existenz" ein Geschenk Gottes und damit kostbar und heilig ist. Die Verletzlichkeit unserer Existenz anzunehmen bedeutet, ungleiche, aber gleichermaßen geliebte Kinder Gottes zu sein und an Gott zu glauben, der Liebe ist, statt an Staatsbürgerschaft und Rechte. Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen: "Wir glauben nicht an Krieg", "Wir glauben nicht an Atomwaffen" und "Wir glauben nicht an Grenzen". Anmerkungen: Übersetzung: Dietrich Gerstner mit Unterstützung von Deepl.com |
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